Proteste gegen Neuwahlen Warum sich Badeorte und türkische Airlines in die Politik einmischen

Von Anna Kappeler

9.5.2019

Sieht der Strand in Bodrum am Tag der Neuwahlen so aus?
Sieht der Strand in Bodrum am Tag der Neuwahlen so aus?
Symbolbild: PD

Nach der Wahl-Annullierung fordern türkische Badeorte dazu auf, statt bei ihnen Ferien zu machen, am 23. Juni in Istanbul wählen zu gehen. Und türkische Fluggesellschaften wie Pegasus erstatten sogar Tickets zurück.

Die Wut ist gross: Am Montagabend hatte die türkische Wahlbehörde die Bürgermeisterwahl vom 31. März in Istanbul für ungültig erklärt und eine Wiederholung am 23. Juni angeordnet. Als nichts weniger als das Ende der türkischen Demokratie wird der Entscheid bereits kritisiert. Auch die EU findet deutliche Worte. Österreich etwa fordert ein Ende der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei.

Jetzt wird bekannt: Auch in der Türkei selber wird neue Kritik laut – von unerwarteter Seite. Mehrere Badeorte rufen dazu auf, sie am 23. Juni nicht zu besuchen. Stattdessen solle man in Istanbul unbedingt wählen gehen. Dies ist allein deshalb bemerkenswert, weil im Juni Schulferien sind und es dann viele Leute aus Istanbul an die Küste zieht. Doch die Kommunalwahl muss persönlich getätigt werden – via Brief ist nicht erlaubt. Deshalb die Initiative.

«Kreative und ironische Art»

Eine, die sich freut über diese Aktion, ist die türkische Ökonomin Derya. «Die Orte werben auf eine ironische und kreative Art für die Wahlen», sagt sie. Derya will ihren vollen Namen aus Angst vor Repression nicht nennen. Auch möchte sie kein Bild von sich veröffentlicht wissen. Derya lebt im asiatischen Teil von Istanbul und hat für den Oppositionspolitiker Ekrem Imamoglu gestimmt. Sie bezeichnet sich als AKP-Gegnerin. Bis zu ihrem 10. Lebensjahr hat sie als Gastarbeiter-Kind in Deutschland gelebt, sie spricht fliessend Deutsch.

Der Badeort Cesme bei Izmir schliesst am Tag der Neuwahlen seine Strände – und ruft so zur Neuwahl in Istanbul auf.
Der Badeort Cesme bei Izmir schliesst am Tag der Neuwahlen seine Strände – und ruft so zur Neuwahl in Istanbul auf.
Screenshot PD

Für «Bluewin» übersetzt Derya die Kampagne der verschiedenen Ortschaften: «Etwa die ägäische Insel Bozcaada. Sie teilt mit, dass genau am 23. Juni an ihren Stränden Haifische erwartet werden und man deshalb bitte nicht kommen soll», sagt Derya. Der Badeort Cesme bei Izmir geht sogar so weit, für jenen Tag ein totales Schwimmverbot auszusprechen. Und Bodrum an der türkischen Südwestküste rät vor Reisen ab, weil dann Schnee falle. Das sei alles erstaunlich, da die Orte «eigentlich auf uns als Touristen angewiesen sind», so Derya. Sie erzählt noch, dass sich die Bus-Gesellschaften ebenfalls an der Aktion beteiligten. Einzelne der Orte böten am 23. Juni kostenlos Busse nach Istanbul an, damit die Leute wählen gehen können.

Die ägäische Insel Bozcaada warnt ironisch vor Haifischen am Tag der Neuwahlen.
Die ägäische Insel Bozcaada warnt ironisch vor Haifischen am Tag der Neuwahlen.
Screenshot PD

Diese Aktionen bleiben dank der Verbreitung via Social Media auch ausserhalb der Türkei nicht unbemerkt. Der Schweiz-Türke Yunus Ersoy weiss von mehreren Kampagnen verschiedener Ortschaften auf Twitter, die «so dazu beizutragen versuchen, dass möglichst viele Leute wählen gehen». Ersoy arbeitet in Berlin am Maxim-Gorki-Theater und verfolgt die neueste Entwicklung nach der Annullierung der Bürgermeisterwahl in Istanbul mit grossem Interesse. Er sagt: «Die Orte werben damit, dass sie dann beispielsweise alle ihre Restaurants geschlossen halten oder dass dann die Luftfeuchtigkeit extrem hoch sei. Das zeigt das Ausmass der Besorgnis und die Bedeutung des Istanbuler Bürgermeisterpostens.»

Der Badeort Bodrum warnt vor Schnee am Tag der Neuwahlen – so sollen die Istanbuler zur Wahl motiviert werden.
Der Badeort Bodrum warnt vor Schnee am Tag der Neuwahlen – so sollen die Istanbuler zur Wahl motiviert werden.
Screenshot PD

Damit nicht genug: Sogar türkische Fluggesellschaften wie Pegasus, Atlas und Onur erleichtern es den Kunden, am 23. Juni wählen zu gehen. Und selbst die halbstaatliche Turkish Airlines soll sich beteiligen. Auf der türkischen Webseite von Pegasus findet sich der Hinweis: «Umtausch- und Annulierungsrechte für Tickets am 23. Juni»; auf derjenigen von Atlas wird die Aktion sogar prominent und auf Englisch beworben.

Die Fluggesellschaft Atlas mischt sich in die Politik ein.
Die Fluggesellschaft Atlas mischt sich in die Politik ein.
Screenshot Atlas

Dazu sagt die Türkin Derya: «Das ist bemerkenswert: Die Fluggesellschaften nehmen am Tag der neuen Wahl bereits gekaufte Tickets ab Istanbul ohne Zusatzkosten wieder zurück. Und erstatten die Ticketpreise vollumfänglich zurück.» «Bluewin» wollte das von Pegasus und den anderen Airlines bestätigt haben. Die Beantwortung der Anfrage ist von den Fluglinien in Aussicht gestellt.

Die Türkische Seite von Pegasus wirbt für die Ticketrückgabe am Tag der Neuwahlen.
Die Türkische Seite von Pegasus wirbt für die Ticketrückgabe am Tag der Neuwahlen.
Screenshot Pegasus

Aufrufe, den Kopf nicht hängen zu lassen

Ersoy verfolgt die Social-Media-Bewegungen im Nachgang der Wahl-Annullierung sehr genau. Er sei zwar kein Experte für die türkische Politik, aber dem Land emotional verbunden. Besonders fällt ihm der Twitter-Hashtag #HerşeyÇokGüzelOIacak (#alleswirdschön) auf. «Dort wird dazu aufgerufen, jetzt nicht den Kopf hängen zu lassen. Und stattdessen nochmals zu wählen», sagt Ersoy. Die aktuelle Stimmung erinnere ihn an 2017, als vor dem Referendum über die Einführung eines neuen Präsidialsystems kurz Hoffnung aufgekommen sei. «Damals haben sich unter dem Hashtag #hayır (auf Deutsch: Nein) ebenfalls viele Kreative und Intellektuelle für ein Nein eingesetzt.» Allerdings: «Ob heute immer noch von Hoffnung oder doch eher von Galgenhumor die Rede sein soll, vermag ich nicht zu sagen», so Ersoy.

Dieser Aussage stimmt auch die Ökonomin Derya zu. Im Alltag habe sich in Istanbul nichts verändert, die Kinder gehen zur Schule, die Erwachsenen zur Arbeit. «Und doch tut sich momentan unglaublich viel.» Auch Derya bestätigt, dass es in den sozialen Medien momentan nur ein Thema gebe und erwähnt ebenfalls den «Alleswirdschön»-Hashtag. Unter deren Anhängern findet sich etwa die bekannte türkische Autorin Ece Temelkuran. Oder auch die Sängerin Sabahat Akkiraz, die extra ihr für den 23. Juni geplantes Konzert in London abgesagt hat. «Ich beobachte eine neue Bewegung in allen Gesellschaftsschichten, die diesem Angriff auf die Demokratie nun etwas Positives gegenüberzustellen versucht», sagt Derya.

«Eine so grosse Bewegung ist neu»

Für Derya ist eine «so grosse Bewegung und Solidarisierung der Bevölkerung» neu. «Das gibt mir einerseits grosse Hoffnung, dass Imamoglu am 23. Juli klar und deutlich gewinnt.» Derya kannte den Oppositionspolitiker vor der ersten Wahl am 31. März nicht und hatte ihn deshalb gewählt, weil er bei der CHP ist. «So wie mir ging es wohl den meisten modernen, säkularen Türkinnen und Türken. Inzwischen aber ist Imamoglu bekannt wie ein Popstar», sagt Derya.

Die Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit andererseits bereiten Derya Sorgen. «Als die AKP bei den nationalen Wahlen am 7. Juni 2015 zu wenig Stimmen erhielt, um allein regieren zu können, kam es in der Folge zu mehreren Anschlägen. Natürlich hat diese nicht die AKP verübt.» Tatsache aber sei, dass die Partei bei der Wahlwiederholung im Herbst 2015 dann plötzlich gewonnen habe. «Ich fürchte mich vor ähnlichen Unruhen.»

Die jüngste Bürgermeisterwahl wiederum in Istanbul am 31. März hatte Imamoglu mit nur rund 24’000 Stimmen gewonnen. Die Regierungspartei AKP mitsamt dem Ex-Ministerpräsidenten Binali Yildirim legte Einspruch ein. Nach einer Neuauszählung in einigen der 39 Wahlkreisen schrumpfte der Unterschied zwar, konnte von der AKP aber nicht mehr aufgeholt werden. Das Resultat war eben: Die AKP beantragte eine Wiederholung der Abstimmung.

«Reine Verzögerungstaktik von Erdogan»

«Das ist nicht mehr demokratisch», sagt Derya dazu. Nur schon die Tatsache, dass es 17 Tage gedauert habe, bis Imamoglu als Gewinner anerkannt wurde, sei haarsträubend. «Das war eine reine Verzögerungstaktik von Erdogan.» Auch dass die Wahlkommission die Wahl wiederholen lasse, weil es zu Betrug gekommen sein soll, sei absurd. «Bei dieser Wahl waren dieselben Wahlräte im Dienst wie bei den Parlaments- und Präsidentenwahlen im vergangenen Jahr – und beim Referendum über die Einführung eines Präsidialsystems, mit dem Erdogan seine Machstellung ausgebaut hatte.»

Nach dieser Logik müssten gemäss Derya diese Abstimmungen – und hier hatten Erdogan und seine AKP gewonnen –, auch fehlerhaft sein.

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