Teilmobilmachung und Annexionen Das hat Russland konkret vor

Von Hannah Wagner, André Ballin und Andreas Stein, dpa

23.9.2022 - 06:34

Teilmobilmachung: Geteilte Reaktionen in Moskau

Teilmobilmachung: Geteilte Reaktionen in Moskau

Mit der Teilmobilmachung und der Entsendung weiterer Soldaten will Russland aus der Defensive kommen, in die es im Zuge der ukrainischen Gegenoffensive im Süden und Osten der Ukraine gekommen war. Stimmen dazu aus Moskau.

21.09.2022

Angesichts schwerer Niederlagen im Krieg gegen die Ukraine setzt Russland auf weitere Eskalation. Kremlchef Putin lässt in den besetzten Gebieten Scheinreferenden durchführen und hat eine Teilmobilmachung der Streitkräfte verkündet. Was genau bedeutet das?

DPA, Von Hannah Wagner, André Ballin und Andreas Stein, dpa

In vier besetzten ukrainischen Regionen lässt Russland in demokratisch nicht legitimierten Scheinreferenden die Menschen über einen Beitritt zu Russland abstimmen. Gleichzeitig will Russland insgesamt 300'000 Reservisten in die Ukraine schicken – rund doppelt so viele, wie Schätzungen zufolge dort bisher bereits kämpften. Sie sollen den Wendepunkt bringen in dem bereits seit sieben Monaten andauernden Krieg, der für Russland alles andere als erfolgreich läuft. Durchgesetzt werden soll so unter anderem eine geplante grossflächige Annexion ukrainischer Gebiete. Doch ist das realistisch? Die wichtigsten Fragen und Antworten:

Welche Rolle spielen geplante Annexionen ukrainischer Gebiete?

Ab Freitag wollen die Besatzer in den östlichen Gebieten Luhansk und Donezk sowie in Cherson und Saporischschja im Süden völkerrechtswidrige Abstimmungen über den Anschluss an Russland durchsetzen. Es handelt sich um Scheinreferenden, weil sie ohne Zustimmung der Ukraine, unter Kriegsrecht und nicht nach demokratischen Prinzipien ablaufen. Mit den vier Gebieten droht sich Moskau eine Fläche von über 108'000 Quadratkilometern einzuverleiben. Das entspricht der Grösse von Bayern und Baden-Württemberg zusammen.

Ein Soldat der selbst ernannten «Volksrepublik» Donezk bewacht am 22. September 2022 – ein Tag vor den nicht legitimierten Scheinreferenden in vier ukrainischen Gebieten – ein Wahllokal.
Ein Soldat der selbst ernannten «Volksrepublik» Donezk bewacht am 22. September 2022 – ein Tag vor den nicht legitimierten Scheinreferenden in vier ukrainischen Gebieten – ein Wahllokal.
Bild: Keystone/AP Photo

Auf ähnliche Weise annektierte Russland bereits 2014 die ukrainische Schwarzmeer-Halbinsel Krim. Wie schon damals ist eine internationale Anerkennung auch diesmal nicht in Sicht. Dennoch würde der Kreml Angriffe auf Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja künftig als Angriffe auf eigenes Staatsgebiet werten. Und Putin droht: «Wenn die territoriale Integrität unseres Landes bedroht wird, werden wir zum Schutz Russlands und unseres Volkes unbedingt alle zur Verfügung stehenden Mittel nutzen.» Also auch Atomwaffen.

Wie begründet Putin die Annexion?

Putin begründet dies mit dem angeblichen Schutz der dortigen Zivilbevölkerung vor ukrainischen Angriffen. Zweieinhalb Millionen Menschen hätten wegen der Kämpfe fliehen müssen. «Diejenigen, die geblieben sind – etwa fünf Millionen Menschen – sind nun ständigen Artillerie- und Raketenangriffen von neonazistischen Kämpfern ausgesetzt. Sie greifen Krankenhäuser und Schulen an und verüben Terroranschläge gegen Zivilisten», behauptete Putin in seiner Mobilmachungsrede.

Was bedeutet die Teilmobilmachung konkret?

Der Erlass zwingt Russen zur Kriegsteilnahme, die bislang – zumindest theoretisch – freiwillig war. Eingezogen werden sollen 300'000 Reservisten, und zwar ab sofort. Laut Angaben des Verteidigungsministeriums sind ehemalige Wehrpflichtige sowie Zeitsoldaten mit Mannschaftsdienstgrad im Alter bis 35 Jahre und Reserveoffiziere der unteren Dienstgrade bis 45 Jahre betroffen. In erster Linie sollen demnach Männer mit Kampferfahrung und einer militärischen Spezialausbildung in den Krieg geschickt werden.

Wie soll die Teilmobilmachung durchgesetzt werden?

Russlands Gouverneure wurden direkt angewiesen, die Einberufung von Soldaten in ihren Regionen zu organisieren. Zur Durchsetzung der Mobilmachung hat Putin zudem gerade erst mehrere Gesetze verschärfen lassen. So werden Fahnenflucht und der «freiwillige» Eintritt in die Kriegsgefangenschaft nun hart bestraft.

Ausserdem dürfen wehrpflichtige Russen nach Putins Befehl zur Teilmobilmachung ihren Wohnort laut Gesetz nicht mehr verlassen. Aus der Staatsduma hingegen hiess es, innerhalb Russlands könnten die Menschen trotzdem weiterhin ungestört reisen, Auslandsreisen seien nun aber nicht mehr zu empfehlen.

Was bezweckt Putin mit der Einziehung von Reservisten?

Noch immer ist in Moskau offiziell nur die Rede von einer «militärischen Spezial-Operation» in der Ukraine – und sie hat dem Kreml wohl bisher nicht annähernd das erhoffte Ergebnis gebracht. Nach sieben Monaten Krieg hat Russland zwar im Osten und im Süden der Ukraine grössere Gebiete erobert, musste zuletzt aber auch eine herbe Schlappe hinnehmen: Unter dem Druck ukrainischer Gegenoffensiven zogen sich russische Truppen fast komplett aus dem nördlichen Gebiet Charkiw zurück. Auch in anderen Regionen droht den russischen Besatzern die Kontrolle zu entgleiten.

Zudem sind die Verluste laut unabhängigen Beobachtern deutlich höher als die nun von Verteidigungsminister Sergej Schoigu eingeräumte Zahl von knapp 6000 toten russischen Soldaten. Vor diesem Hintergrund hofft Putin wohl, mit den nun mobilisierten Reservisten eine Wende auf dem Schlachtfeld herbeiführen zu können. Und er dürfte auch darauf spekulieren, dass seine jüngsten Drohgebärden die Ukraine und deren westliche Unterstützer einschüchtern.

Wie realistisch sind Putins Pläne?

Laut Prognosen internationaler Militärexperten dürfte Russland länger brauchen als erwartet und nur Verbände mit zweifelhafter Kampfkraft aufstellen können. «Die Teilmobilisierung wird sich on the ground erst in einigen Monaten wirklich auswirken», sagt die Grünen-Politikerin Sara Nanni. Der US-Militärexperte Rob Lee meint auf Twitter, dass auf russischer Seite dann immer mehr Soldaten am Kampf beteiligt seien, die dort nicht sein wollten. Sein Fazit: «Zwischen ukrainischen und russischen Verbänden wird der Unterschied in der Moral und dem Zusammenhalt der Truppe immer grösser.»

Was bedeuten die Entwicklungen für die ukrainischen Gegenoffensiven?

In Kiew wurde die Ankündigung aus Moskau betont gelassen zur Kenntnis genommen. Der externe Berater des ukrainischen Präsidentenbüros, Mychajlo Podoljak, fragte auf Twitter: «Läuft immer noch alles nach Plan oder doch nicht?» Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte bereits davor betont, die Ukraine lasse sich nicht einschüchtern. Zudem dürften in den kommenden Monaten auch auf ukrainischer Seite frische Kräfte eintreffen. So läuft etwa die Ausbildung ukrainischer Soldaten in Grossbritannien und anderen westlichen Staaten.

Wie verhält sich der Westen?

Hochrangige Politiker aus dem Westen werten Putins Ankündigung als «Zeichen der Schwäche» und als «Akt der Verzweiflung» wegen der jüngsten militärischen Misserfolge Russlands. Kanzler Olaf Scholz sagte, Putin habe die Situation von Anfang an «komplett unterschätzt». Offen ist aber, wie westliche Staaten abseits von Worten mit der neuen Eskalation umgehen – insbesondere mit Putins Drohung, notfalls auch Atomwaffen einzusetzen. Bislang wurden weitreichende Sanktionen gegen Russland verhängt und die Ukraine mit Waffen und Munition versorgt. Ein direktes militärisches Eingreifen des Westens gilt aber als ausgeschlossen.

Wie reagieren die Russen auf die Teilmobilmachung?

Seit Kriegsbeginn haben viele Russen Angst vor einem solchen Schritt des Kremls gehabt. Unabhängige Organisationen richteten am Mittwoch direkt Beratungs-Hotlines für Männer ein, die einen Einberufungsbescheid erhalten. Viele Flüge in aus Russland noch erreichbare Länder waren ausgebucht. In mehreren Städten gab es Proteste, mehr als 1000 Menschen wurden festgenommen. Landesweite Unruhen sind aber nicht zu erwarten. Zum einen hat der Kreml Repressionen gegen Kritiker zuletzt massiv ausgeweitet. Zudem haben Russlands Staatsmedien den Bürgern monatelang eingebläut, das Land werde von der Nato und dem «kollektiven Westen» angegriffen – und die Verteidigung dagegen sei nun eine patriotische Pflicht.