Nachschubwege in der Ukraine Wer die Eisenbahn verliert, verliert wohl auch den Krieg

Von Andreas Fischer

15.5.2023

Trotz täglicher Angriffe durch die russische Armee fährt die ukrainische Eisenbahn unbeirrt weiter.
Trotz täglicher Angriffe durch die russische Armee fährt die ukrainische Eisenbahn unbeirrt weiter.
IMAGO/SNA

Im Krieg gegen die Ukraine wird die Eisenbahn immer wichtiger. Putins Truppen sind gnadenlos abhängig von der Schiene: Wer sie kontrolliert, hat entscheidende Vorteile.

Von Andreas Fischer

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  • Das ukrainische Eisenbahnnetz spielt im Krieg eine entscheidende Rolle.
  • Vor allem die russische Armee ist von der Schiene abhängig, um Truppen und Material zu transportieren.
  • Ohne Züge können Putins Truppen ihr schweres Kriegsgerät nicht  transportieren und die Soldaten nicht mit Nachschub versorgen.

«Unsere eisernen Männer und Frauen sind die zweite Armee des Landes. Ohne sie würde es die Ukraine gar nicht mehr geben», hatte Alexander Kamyshin, bis Ende März CEO der ukrainischen Eisenbahngesellschaft Ukrsalisnyzja Reportern des «Blick» gesagt.

In der Tat: Die ukrainische Eisenbahn rollt und rollt und rollt. Trotz des Krieges, den Putin über das Land gebracht hat. Und sie spielt eine wichtige Rolle bei der Verteidigung.

Die Ukraine ist ein Eisenbahnland. Die mehr als 22'000 Schienenkilometer (besetzte Gebiete sind nicht eingerechnet) sind die Lebensadern des Landes. Im Krieg kommt ihnen eine entscheidende Bedeutung zu. Ohne Kontrolle über die Eisenbahnstrecken hat vor allem die russische Armee ein Problem.

Ohne Schienen kaum Nachschub für Putins Truppen

«Wenn sie keine Eisenbahnen benutzen kann, muss die Armee stattdessen auf Strassen ausweichen», weiss Emily Ferris, Russland-Expertin am Royal United Services Institute (Rusi).  Während das Eisenbahnnetz der Ukraine weitgehend intakt und nicht zuletzt dank der Investitionen von etwa 750 Millionen US-Dollar vor der Fussball-EM 2012 ziemlich modern ist, sind die Strassen und Autobahnen oftmals in einem miserablen Zustand sind.

Für den Transport von schwerem Kriegsgerät, Truppen, Munitions- und Kraftstoffnachschub sind Putins Truppen in «überwältigendem Mass» von der Eisenbahn abhängig, analysiert Ferris.

Dies sei einer der Gründe, schreibt die «Neue Zürcher Zeitung», warum Russland seine Truppen nach dem gescheiterten Überraschungsangriff im Frühjahr des vergangenen Jahres recht schnell im Osten des Landes zusammengezogen hat. Dort sind das Schienennetz dicht und der Nachschub gesichert. Ergo hat sich die russische Armee bei den Offensiven im Donbass von Eisenbahnknotenpunkt zu Eisenbahnknotenpunkt vorgearbeitet, wie Emily Ferris von der NZZ zitiert wird.

Die Züge fahren weiter in der Ukraine. Das Schienennetz ist im Krieg entscheidend.
Die Züge fahren weiter in der Ukraine. Das Schienennetz ist im Krieg entscheidend.
AP

Ukrainische Eisenbahner reagieren kreativ auf Zerstörungen

Die übermässige Abhängigkeit von der Eisenbahn ist laut Ferris einer der grössten Stolpersteine Russlands in diesem Krieg. «Grosse Militäroperationen kann Russland deshalb nur dort führen, wo es genügend Eisenbahnlinien gibt.» Die Ukrainer wissen das natürlich und attackieren gezielt Bahngleise in von Russland kontrollierten Gebieten, um den Nachschub zu stören.

Auf der anderen Seite ist natürlich auch die Armee der Ukraine von der Eisenbahn abhängig, wenn auch nicht in demselben Mass wie Russland. Trotzdem gilt die «Ukrsalisnyzja» als «zweite Armee des Landes»: Aufgrund des dichten Streckennetzes kann die Eisenbahngesellschaft bei russischen Angriffen meist schnell eine Ersatzroute für getroffene Strecken finden. «Sie treffen täglich», berichtet Ex-Eisenbahnchef Kamyshin in der «Berliner Morgenpost». «Jeder Tag beginnt für mich frühmorgens mit der Meldung über neue Schäden.»

Mehr als 12'500 Beschädigungen der Eisenbahninfrastruktur habe es seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegeben. Doch die Instandsetzungstruppe repariert selbst in Frontnähe zügig und kreativ zerstörte Gleisanlagen, mit dem Ergebnis, dass die Züge der «Ukrsalisnyzja» zuverlässig durch das Land rollen und oft sogar erstaunlich pünktlich sind.

Seit Kriegsbeginn transportierte die Eisenbahngesellschaft mehr als vier Millionen Binnenflüchtlinge aus den umkämpften Gebieten in sichere Gebiete. Tausende verwundete Soldaten wurden in Lazarettzügen behandelt. Nicht zuletzt ist die Bahn in der Ukraine auch für die Diplomatie unersetzlich: Westliche Politiker kommen nicht im Flugzeug, sondern in speziell gesicherten Panzerzügen nach Kiew.

Die ukrainische Eisenbahn hat sich im Krieg zu einer Art «zweiter Armee» Kiews zu entwickelt.
Die ukrainische Eisenbahn hat sich im Krieg zu einer Art «zweiter Armee» Kiews zu entwickelt.
IMAGO/ZUMA Wire