«Flüchtlinge als Waffe» Litauens Grenzregion zu Belarus im Aufruhr

Von Alexander Welscher und Ulf Mauder, dpa

18.8.2021 - 05:10

Ein Mitglied des litauischen Grenzschutzes patrouilliert im Juni mit einem Hund an der Grenze zu Belarus.
Ein Mitglied des litauischen Grenzschutzes patrouilliert im Juni mit einem Hund an der Grenze zu Belarus.
Bild: Keystone/dpa

Machthaber Lukaschenko steht in der Kritik, Afghanen und andere Flüchtlinge massenhaft in die EU zu schleusen, um sich für Sanktionen gegen sein Land zu rächen. In einer Zeltstadt in dem litauischen Dorf Rudninkai leben nun schon mehr Migranten als Einheimische.

DPA, Von Alexander Welscher und Ulf Mauder, dpa

Lager mit Flüchtlingen aus Afghanistan, aus Syrien und aus dem Irak haben die Menschen in Litauen lange nur über das Fernsehen in anderen Ländern gesehen. Bis mehrere Hundert Flüchtlinge illegal die Grenze aus Belarus überschritten. In einer provisorischen Zeltstadt im idyllischen Dorf Rudninkai mit seinen Holzhäusern leben jetzt schon mehr Migranten als Einheimische. Sie kommen aus dem Nachbarland Belarus – dort, wo Machthaber Alexander Lukaschenko wütend ist über die Sanktionen der EU. Er rächt sich, indem er massenhaft Flüchtlinge in die EU durchlässt.

Seit Wochen ist die Ruhe für die rund 500 Einwohner im beschaulichen Rudninkai dahin. Das Auffanglager sorgt in dem gut 30 Kilometer südlich der litauischen Hauptstadt Vilnius gelegenen Ort für Aufregung. Mehr als 700 Migranten, die illegal über die Grenze von Belarus nach Litauen gekommen sind, hat die Regierung des baltischen EU-Landes dort untergebracht – zum Unmut vieler Dorfbewohner.

«Stoppt Migranten in Rudninkai!» und «Wir sagen Nein zu den Illegalen!» steht auf den Protestplakaten, die an Zäunen an der Hauptkreuzung hängen. Gut einen Kilometer davon entfernt liegt in einem Waldstück das provisorische Lager. Es ist die grösste Erstaufnahmeeinrichtung in dem Land mit drei Millionen Einwohnern und einer 680 Kilometer langen Grenze zu Belarus.

Litauen auf Fluchtroute

«Wir fühlen uns unsicher», sagt die 80 Jahre alte Rentnerin Teresa Zavadskaja der Deutschen Presse-Agentur auf ihrem Weg in den Dorfladen. «Es gibt hier nun mehr Migranten als Einheimische.» Ähnlich äussern sich auch die Verkäuferin und andere Kunden des Ladens. Sie fürchten um ihre Sicherheit.

Seit Mai überquerten mehr als 4100 Flüchtlinge illegal die grüne Grenze zwischen Litauen und seinem Nachbarland. Im gesamten Vorjahr waren es gerade einmal 81 Migranten gewesen. Auch Menschen aus Afghanistan sind in dem Lager. Die belarussische Fluglinie Belavia fliegt Afghanistans Nachbarländer Usbekistan und Tadschikistan an, wohin viele Menschen vor den militant-islamistischen Taliban fliehen.

In Minsk hat Lukaschenko mehrfach erklärt, dass seine Grenzschützer die Migranten nicht mehr an der Weiterreise in die EU hinderten – als Reaktion auf verschärfte westliche Sanktionen gegen die vom Westen isolierte Ex-Sowjetrepublik. Er beklagt, die EU habe Geld für sein Land gestrichen. Die EU fordere zwar den Schutz der Grenze. «Aber wer wird dafür bezahlen?», fragt der 66-Jährige.

Kritik an den Behörden

Litauens Regierung dagegen spricht von «hybrider Kriegsführung» gegen das eigene Land und die gesamte Europäische Union. Die EU, deren Innenminister am Mittwoch über die Lage beraten wollten, wirft Lukaschenko vor, er benutze «Flüchtlinge als Waffe» gegen die EU. Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisierte in Berlin Lukaschenkos Vorgehen als «Attacke auf uns alle in der Europäischen Union».

Seit Anfang August weist der litauische Grenzschutz Migranten ab, die über Belarus illegal ins Land kommen wollen. Doch müssen die aufgegriffenen Migranten, die grösstenteils ohne Pass kommen und Asyl beantragen, untergebracht werden. Dagegen regt sich weiter Widerstand in mehreren grenznahen Orten – und Kritik auch am Umgang der Behörden mit der einheimischen Bevölkerung.

Im rund 30 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernten Rudninkai blockierten die Dorfbewohner die Zufahrt zur Zeltstadt, die auf einem Gelände des Innenministeriums errichtet wurde. Dabei kam es zu einem Handgemenge zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten – es gab mehrere Verletzte. Innenministerin Agne Bilotaite sprach später von gegen den Staat gerichteten Aktionen. Die Dorfbewohner seien «aufgehetzt» worden von interessierten Personen.

Kalt, allein und ohne richtige Kleidung

Für Aufsehen sorgten auch Unruhen unter Migranten in Rudninkai. Rund 20 Flüchtlinge entkamen dabei unlängst aus dem Lager – und wurden später von der Polizei wieder aufgegriffen. Grund für den Aufstand war nach Angaben des Innenministeriums die Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen.

«Das Wetter ist kalt. Wir haben keine Kleidung», erzählen einige der in einer kleinen Gruppe am Zaun des Lagers sitzenden Männer. «Meine Frau ist in Deutschland», sagt einer von ihnen in gebrochenem Deutsch. 35 Tage sei er schon in der Aufnahmeeinrichtung. Mit dem Flugzeug sei er von Bagdad zunächst in die belarussische Hauptstadt Minsk gekommen. Von dort habe er sich dann zur Grenze durchgeschlagen und sie überquert, sagt der Iraker.

Schleuserbanden ein Problem

Litauische Medien berichten immer wieder über solche Fluchtwege. Auch Schmugglerbanden sollten dort unterwegs sein. Für viele ist das Ziel Deutschland. Einem Bericht des Internetportals 15min.lt zufolge kostet die mit einem Flug nach Belarus beginnende Reise aus dem Irak in die Bundesrepublik insgesamt rund 3000 Dollar. Eine Frage zu den Schleuserkosten an die Migranten hinter dem Zaun in Rudninkai geht unter in einer spontanen Kundgebung. «Free Afghanistan» und andere Slogans rufen die Flüchtlinge.

Die Staatsmedien im benachbarten Belarus schlachten den Ausnahmezustand in Litauen seit Wochen genüsslich aus. Lukaschenko zeigt auf Litauen und klagt, die armen Flüchtlinge würden unmenschlich wie im «Konzentrationslager» behandelt.

Nicht Belarus, sondern der Westen müsse Verantwortung übernehmen für seine Politik in Afghanistan, im Irak und anderswo. Dort sei alles zerstört worden. «Verständlich, dass auch die Migration über Belarus zugenommen hat», sagt der Machthaber. Aufhalten will er niemanden. Lukaschenko behauptet immer wieder, die EU-Staaten würden sich über die Arbeitskräfte freuen. In Belarus jedenfalls gebe es keinen Platz.