Lagebild Ukraine Von wegen «Ziel verfehlt» – das läuft an Kiews Offensive gut

Von Philipp Dahm

21.8.2023

Drohne fällt auf Bahnhof in der russischen Stadt Kursk

Drohne fällt auf Bahnhof in der russischen Stadt Kursk

Russland hat seit dem frühen Sonntagmorgen Drohnenangriffe auf Ziele in verschiedenen Regionen des Landes gemeldet. Zunächst berichtete die russische Nachrichtenagentur Tass unter Verweis auf den Goucerneur der Region Kursk, eine Drohne sei in der gleichnamigen Stadt durch das Dach eines Bahnhofs geschlagen. Fünf Personen seien verletzt worden. Die Drohne habe zudem ein Feuer verursacht.

21.08.2023

Versagt Kiew bei der Gegenoffensive? Schlägt das Militär einfach nicht geschlossen genug zu? Ein entsprechender Bericht der «Washington Post» wird von einem US-Historiker mit deutlichen Worten kritisiert.

Von Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Ein Historiker kontert einen Bericht der «Washington Post».
  • Demnach soll die Ukraine das Ziel ihrer Gegenoffensive verfehlen.
  • Kiew könne die russischen Truppen auch teilen, ohne Melitopol einzunehmen, so Phillips O’Brien von der University of St Andrews.
  • Auch Langstrecken-Waffen würde Kiew offensichtlich fehlen, schreibt der Professor mit Blick auf F-16-Kampfjets und ballistische Raketen (ATACMS) weiter.
  • Dafür, dass die russische Verteidigung direkt angegriffen werde, komme die Gegenoffensive gut voran.
  • Bei Robotyne, Andriivka und Klischtschijiwka gibt es schwere Gefechte. In Urozhaine konsolidiert Kiews Armee seine Stellung.

Er wundere sich, dass der Artikel in der «Washington Post» (WP) so viel Aufmerksamkeit erfahren habe, schreibt der amerikanische Historiker Phillips O’Brien. Die Zeitung hat berichtet, Kiew verfehle das Ziel seiner Gegenoffensive, Melitopol einzunehmen und einen Keil in die russisch besetzten Gebiete im Süden der Ukraine zu treiben.

Es treibt den Professor des University of St Andrews einerseits um, weil die Pentagon-Quellen, die zitiert werden, alle anonym sind. «Nun, das war aber nicht alles», schreibt O’Brien auf der Autoren-Plattform «Substack»: «Der Artikel war grob unlogisch und hat gezeigt, dass die Quelle entweder nicht versteht, wie Krieg läuft, oder bewusst verwirrt.»

Der Bostoner führt aus, dass Kiew bloss die Strassen- und Eisenbahn-Verbindungen nach Cherson unterbrechen müsste, um die russischen Truppen effektiv zu teilen. Dafür würde es bereits genügen, in die Gegend von Melitopol zu kommen: Die dortigen Verkehrsknotenpunkte könnten auch aus einiger Entfernung zur Stadt bedroht werden.

«Wirklich verrückt»

«Wirklich verrückt» findet der Professor, dass Kiew vorgeworfen werde, es akzeptiere keine Verluste und komme daher nicht schneller voran als in einer Kriegssimulation, bei der die Ukraine gewonnen habe. Dabei werde ja beschrieben, wie stark die russische Verteidigung ausgebaut worden sei. Die Höhe sei jedoch, dass die WP verbreitet habe, auch Langstreckenraketen und F-16-Jets hätten am Ergebnis nichts geändert.

«Das ist aussergewöhnlich», ärgert sich O’Brien: «Wenn die Ukraine schon vor Monaten die Fähigkeit für Angriffe aus grösserer Entfernung gehabt hätte, hätte sie den russischen Nachschub vernichten können. Um der aktuellen maximalen Reichweite der Himars zu entgehen, haben die Russen ihre Depots ja in die sichereren Regionen verlegt.»

Vor allem könnte man auch andersherum argumentieren: Dafür, dass die ukrainischen Streitkräfte die Russen direkt in ihren starken Stellungen im Süden angreifen, ohne dass es eine Überraschung wäre, kommt die Gegenoffensive noch relativ gut voran.

Was gut läuft bei Kiews Gegenoffensive

Wer regelmässig das Lagebild Ukraine liest, weiss, dass Kiew derzeit neben Transportinfrastruktur, Truppenkonzentrationen und Nachschub-Lagern vor allem gegnerische Luftabwehr- und Artillerie-Systeme (siehe Tweet unten) ins Visier nimmt. Diese Taktik zahlt sich offenbar aus.

In einem angeblich geleakten russischen Memo (siehe Tweet unten) wird festgehalten, dass Moskaus Truppe in Sachen Artillerieduelle (Counter-battery fire), Präzision der Raketenwerfer und interne Kommunikation grosse Probleme habe. Es gibt demnach mittlerweile zu wenig 152-Millimeter-Granaten für die eigene Artillerie.

Dass der Memo-Ärger authentisch sein könnte, impliziert ein Bericht von «Bloomberg»: Demzufolge rumort es in der russischen militärischen Führung. Hardliner im Sicherheitsapparat fordern von Wladimir Putin angeblich die Köpfe von Minister Sergei Schoigu und General Waleri Gerassimow, die Ausrufung des Kriegsrechts und eine allgemeine Mobilisierung. Doch dass es so weit kommt, ist vorerst unwahrscheinlich: Im September stehen in Russland einige Regional- und im März die Präsidentschaftswahlen an.

Empfindliche Treffer an der Heimatfront

Dabei hätte der Kreml durchaus Bedarf an mehr Mensch und Material. Nicht nur in den Schützengräben in der Ukraine fehlt es an Sicherheit und Personal, sondern auch an der Heimatfront. Alleine heute ist nahe Moskau die Luftabwehr im Einsatz und bei Rostow am Don werden Explosionen gemeldet. Am Vortag ist der Luftwaffen-Stützpunkt Soltsy-2 angegriffen worden.

Die Basis ist satte 650 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt – und weil laut Moskau kleine Drohnen zugeschlagen haben, dürften deren Piloten sie innerhalb Russlands gestartet haben. Sie haben mindestens eine Tu-22M3 Backfire zerstört: Der modernisierte Bomber verschiesst auch Raketen wie die Kinschal, mit denen ukrainische Infrastruktur attackiert wird.

Von der Front in der Ukraine gibt es wenig Neuigkeiten: Russische Medien verkünden zwar, den ukrainischen Brückenkopf bei Kosatschi Laheri im Oblast Cherson am linken, östlichen Dnjepr-Ufer beseitigt zu haben, doch via Telegram kommt ein wütendes Dementi von den eigenen Leuten: «Hört auf, eure Wünsche als Scheiss-Wahrheit zu präsentieren», heisst es.

Robotyne bleibt heiss umkämpft

Um Robotyne im Oblast Saporischschja wird weiterhin erbittert gekämpft. Dass Kiews Kräfte in das Dorf vorgedrungen sind, beweist nicht zuletzt der Beschuss des Ortes durch russische Artillerie. Seit die starke 82. Air Assault Brigade in die Schlacht eingegriffen hat, scheint es für die Ukraine voranzugehen, bestätigt auch der pro-russische Telegram-Kanal Rybar.

75 Kilometer weiter nordöstlich am Fluss Mokri Jaly muss die ukrainische Armee nach der Einnahme von Urozhaine zunächst ihre aktuelle Position konsolidieren. Dazu müssen Novodonetske im Osten und Pryjutne im Westen befreit werden. Andernfalls droht eine Zangenbewegung der Russen. Von der russischen Haupt-Verteidigungslinie sind Wolodymyr Selenksyjs Truppen noch über elf Kilometer entfernt.

Nach der Einnahme von Urozhaine müssen die Flanken gesichert werden, bevor Zavitne Baschannja in der Flüssniederung von den erhöhten Seiten her angegriffen werden kann.
Nach der Einnahme von Urozhaine müssen die Flanken gesichert werden, bevor Zavitne Baschannja in der Flüssniederung von den erhöhten Seiten her angegriffen werden kann.
Bild: DeepStateMap

Im Raum Bachmut im Oblast Donezk versuchen russische Soldaten offenbar täglich, ukrainische Geländegewinne bei Andriivka und Klischtschijiwka. Doch wie bereits im Lagebild beschrieben, sitzen die ukrainischen Truppen auf einer Anhöhe westlich des Dorfes. Um diese starke Verteidigung zu umgehen, haben russische Panzer und Schützenpanzer versucht, diese im Norden zu umgehen.

Andriivka und Klischtschijiwka als Hotspots

Diese Gruppe wurde jedoch per Drohne aufgeklärt und die Kolonne von der Artillerie angegriffen. Mindestens zwei der drei Panzer und zwei der drei Schützenpanzer haben den Vorstoss nicht überstanden. Bei Andriivka scheint es so, als würde die ukrainische Seite nördlich und südlich der Siedlung eine Offensive vorbereiten.

Laut der stellvertretenden Verteidigungsministerin Hanna Maliar hat Kiew in der vergangenen Woche bei Bachmut drei Quadratkilometer befreit. Insgesamt sollen 43 Quadratkilometer zurückerobert worden sein. Weil Moskau trotz der schlechteren Position keinen Rückzieher macht, wird es hier für beide Seiten noch viele Verluste geben.