Nato-Gipfel«Es gibt keinerlei Garantie, dass Russland haltmachen wird»
Von Oliver Kohlmaier
29.6.2022
Stoltenberg: Nato-Gipfel ist entscheidend für Zukunft des Bündnisses
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat für den Nato-Gipfel in Madrid entscheidende Weichenstellungen für das Bündnis angekündigt. Er rief zudem zu weiterer Unterstützung für die Ukraine auf.
28.06.2022
Die Nato will auf ihrem Gipfel klar gegen Russland Stellung beziehen — auch mit einer drastischen Aufstockung der schnellen Eingreiftruppe. Was das bedeutet – und wie die Zukunft des Bündnisses aussieht.
Von Oliver Kohlmaier
29.06.2022, 06:55
29.06.2022, 08:48
Von Oliver Kohlmaier
Der Gipfelmarathon geht weiter. Angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sind wie schon zuvor beim Treffen der EU und der G7 auch an den Nato-Gipfel hohe Erwartungen geknüpft.
Das weiss natürlich auch Jens Stoltenberg — und verkündete bereits vor Beginn des Treffens einen echten Paukenschlag: Die Nato will die schnelle Eingreiftruppe von 40'000 auf mehr als 300'000 Soldaten verstärken.
Die Staats- und Regierungschefs der 30 Mitgliedsländer wollen demnach ein neues Truppenmodell verabschieden. Der scheidende Generalsekretär sprach von nichts Geringerem als der «grössten Neuaufstellung unserer kollektiven Verteidigung und Abschreckung seit dem Kalten Krieg».
Was die Aufstockung bedeutet und vor welchen Herausforderungen die Nato auch in Zukunft stehen wird, klärt ein Experte für blue News auf.
«Keine Garantie, dass die Russen jetzt haltmachen»
Die Stärkung der schnellen Eingreiftruppe hat nicht alles, aber sehr viel mit der russischen Aggression in der Ukraine zu tun. Stoltenberg erwartet, dass die Verbündeten in der spanischen Hauptstadt deutlich machen werden, dass sie Russland als «die bedeutendste und direkteste Bedrohung für unsere Sicherheit» ansehen.
Zur Person
zvG
Lars-Erik Cedermann ist schwedisch-schweizerischer Politikwissenschaftler und Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Konfliktforschung an der ETH Zürich.
«Es handelt sich um klassische Abschreckungspolitik», sagt Lars-Erik Cederman von der ETH Zürich im Gespräch mit blue News. Die Nato raufe sich zusammen, um der russischen Bedrohung zu begegnen.
Wie ernst man diese nimmt, zeige auch die Aufstockung der schnellen Eingreiftruppe. Denn: «Es gibt keinerlei Garantie dafür, dass die Russen jetzt haltmachen werden.»
Derzeit, so Cedermann, finde ein Tauziehen statt zwischen dem Westen und Russland, die Verstärkung der Eingreiftruppe sei lediglich ein Teil davon: «Es sieht leider so aus, dass wir auf einen neuen Kalten Krieg zusteuern.»
Im Hinblick auf die Zukunft der Nato gehe es gleichwohl auch darum, dass die demokratische Weltordnung unter Druck steht und die Nato die «Werte der Aufklärung» verteidigen will.
Strategie nimmt auch China in den Blick
In diese Kerbe schlägt auch der Nato-Generalsekretär. Das neue strategische Konzept solle zu einer «Blaupause» der Nato werden «in einer zunehmend gefährlichen und unberechenbaren Welt», erklärte er zu Beginn des Gipfels.
Er kündigte fundamentale Änderungen an zur Abschreckung und Verteidigung mit Militärkräften, die weiter vorn an den Nato-Grenzen stünden und mit dort bereitstehendem Material ausgerüstet seien.
Beim Gipfel wird zudem erwartet, dass die Nato in ihrem neuen strategischen Konzept auch erstmals auf die Herausforderungen durch China reagiert.
Stoltenberg hatte die Aufstockung der Eingreiftruppe auch als Antwort auf eine «Ära des strategischen Wettbewerbs» bezeichnet. So sollen die Bündnismitglieder diskutieren, wie auf den wachsenden Einfluss Russlands und Chinas in ihrer «südlichen Nachbarschaft» reagiert werden könne.
«Die Chinesen rüsten wie verrückt auf»: Es sei nicht auszuschliessen, dass sich die Lage zuspitzt — «insbesondere falls China entscheiden sollte, ein Angriff auf Taiwan sei einen Versuch wert».
Erklärt: Putins Problem mit der Nato
Die Ukraine verlangt Russlands Armee mehr ab als vom Kreml erwartet. Doch das eigentliche Ziel Wladimir Putins ist das Zurückdrängen der Nato: Die europäische Tiefebene ist der Schlüssel zu Moskaus Sicherheit.
14.06.2022
Durchbruch bei der Norderweiterung
Spannend blieb vor dem Nato-Gipfel bis zuletzt die Frage, ob die geplante Erweiterung um die EU-Staaten Finnland und Schweden gefeiert werden kann. Am Dienstagabend wurde dann der erste grosse Erfolg vermeldet: Nach wochenlanger Blockade erklärte auch die Türkei sich mit dem Beitritt der beiden Länder einverstanden. Ankara warf Finnland und Schweden zuvor insbesondere vor, Mitgliedern der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Schutz zu gewähren.
Cederman betont, wie wertvoll eine Erweiterung um die bisher neutralen Staaten Schweden und Finnland sein wird: «Das Baltikum stellt für die Nato eine sehr grosse Herausforderung dar. Diesen Raum zu verteidigen, ist besonders schwierig.»
Nächste US-Wahlen werden entscheidend sein
Eine weitere grosse Bedrohung für die Nato stellt gleichwohl ausgerechnet dessen wichtigstes Mitglied dar. Denn sollte in den USA in zwei Jahren «jemand wie Trump» gewählt werden, sagt Cederman, sehe es düster aus für die Verteidigungsfähigkeit des Westens.
Sollte das Militärbündnis ohne die USA weitermachen müssen — und diese Gefahr bestehe — sei es irrelevant, ob man Nato-Mitglied ist oder nicht: «Für die Verteidigung Westeuropas wäre dies katastrophal.»