Zweitgrösstes NATO-Heer Die Türkei und Moskaus S-400

Suzan Fraser, AP

21.7.2019

Ein US-Kampfjet F-35A landet auf der Chungju Air Base. Die USA machen Ernst und werfen die Türkei wegen des Kaufs eines russischen Raketenabwehrsystems aus dem F-35- Kampfjet-Programm.
Ein US-Kampfjet F-35A landet auf der Chungju Air Base. Die USA machen Ernst und werfen die Türkei wegen des Kaufs eines russischen Raketenabwehrsystems aus dem F-35- Kampfjet-Programm.
Bild: Kang Jong-Min/Newsis/AP/dpa

Warum kauft ein NATO-Mitglied russische Abwehrtechnik? Für die Türkei sei es eine Notwendigkeit gewesen, heisst es aus Ankara. Die Folgen: wirtschaftlich Verlust, politisch Verstimmung.

Die Entscheidung für den Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400 bringt der Türkei Ärger, wirtschaftliche Verluste und womöglich sogar US-Sanktionen. Ankara aber argumentiert, die Orientierung nach Moskau sei für die Sicherheit unabdingbar gewesen. Ein Überblick, um was es geht:

Was ist das S-400?


Das in Russland produzierte S-400 Triumph ist ein hochentwickeltes Langstrecken-Boden-Luft-Abwehrsystem. Es dient zur Verteidigung gegen Marschflugkörper und Kampfflugzeuge. Die Reichweite beträgt bis zu 400 Kilometer. Das System kann gleichzeitig mehrere Ziele anpeilen und auch ballistische Raketen ausser Gefecht setzen.

Die Türkei vereinbarte im Dezember 2017 mit Moskau den Kauf zweier S-400-Batterien. In Medienberichten war von einem Preis um die 2,5 Milliarden Dollar (2,2 Milliarden Euro) die Rede.
Einsatzfähig soll das System im April 2020 sein, wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan angekündigt hat. Wo es stationiert werden soll, darüber wahrt die Türkei Stillschweigen.

Warum kauft das NATO-Mitglied Türkei in Russland ein?


Die Türkei, nahe der Krisenherde Syrien, Irak und Iran gelegen, bemüht sich seit langem, seine Luftabwehr zu stärken. Die Regierung argumentiert, zu den Verhandlungen mit Russland gezwungen gewesen zu sein, nachdem die USA ihr nicht das amerikanische Patriot-System verkauft hätten. Das S-400 sei ausserdem eines der besten verfügbaren Systeme, die Vereinbarung mit Russland komme den langfristigen Zielen der Türkei zu seiner autarken Verteidigung entgegen. Der Vertrag umfasst den Angaben zufolge auch gemeinsame Produktion und Technologietransfer.

Die USA verweisen darauf, dass eine Einigung über das Patriot-System gescheitert sei, weil die Türkei auf einem Technologietransfer beharrt habe, der ihr letztlich die eigene Produktion ermöglicht hätte. Dem hätten Sicherheitsbedenken und die Interessen der US-Hersteller entgegengestanden.

Die türkische Annäherung an Russland wird begleitet von einem wachsenden Misstrauen gegenüber der US-Politik in Syrien. Vor allem die Unterstützung der USA für kurdische Kämpfer stösst Ankara bitter auf. Auch der Fall Fethullah Gülen belastet die Beziehungen: Der muslimische Kleriker, den Ankara für den Putschversuch von 2016 verantwortlich macht, lebt unbehelligt in den USA. Gülen selbst weist die Vorwürfe zurück.

Das Abwehrsystem S-400.
Das Abwehrsystem S-400.
Bild: Turkish Defense Ministry/XinHua (Archiv)

Warum stellen sich die USA gegen den türkischen S-400-Kauf?

Die USA haben auf den türkischen Kauf des Moskauer Systems mit dem Ausschluss Ankaras aus dem Programm zum Bau des Kampfjets F-35 reagiert. Die türkische Entscheidung mache es unmöglich, dass das Land Teil des F-35-Programms bleibe, erklärte das Weisse Haus.

S-400 könne nicht in das NATO-System integriert werden und bedeute eine Bedrohung für das F-35-Programm, hiess es. Washington zeigte sich besorgt, dass S-400 Daten über die F-35-Kampfjets abgreifen könnte und diese schliesslich in russischen Händen landen könnten.

Die Türkei wies diese Bedenken derweil zurück. Die S-400-Erwerbungen blieben unter türkischer Kontrolle und würden an anderen Orten als jegliche F-35 stationiert. Die Regierung in Ankara schlug ausserdem eine gemeinsame Arbeitsgruppe vor, die mögliche Interaktionen von S-400 und F-35 prüfen könnte.

Welche Folgen hat die S-400-Entscheidung für die Türkei?


Zunächst ist die Türkei vom F-35-Programm vorläufig ausgeschlossen. Das endgültige Aus soll bis zum 31. März 2020 erfolgt sein, wie US-Verteidigungsstaatsekretärin Ellen Lord ankündigte. Damit entgehen der Türkei, Produzent von mehr als 900 F-35-Komponenten, nach Lords Worten rund neun Milliarden Dollar (8 Milliarden Euro) an Einnahmen.

Washington hat bereits das Flugtraining für türkische Piloten am Luftwaffenstützpunkt Luke in Arizona ausgesetzt. Die Betroffenen erhielten eine Frist bis zum 31. Juli, die Vereinigten Staaten zu verlassen.

Zudem haben die USA mögliche Sanktionen unter dem CAATSA-Gesetz («Countering America's Adversaries Through Sanctions») ins Spiel gebracht. Und mit Sanktionen der USA hat die Türkei bereits schlechte Erfahrungen gemacht: Sie schickten die Lira auf Talfahrt. US-Präsident Donald Trump hat allerdings versöhnliche Töne angeschlagen und damit in der Türkei die Hoffnung geweckt, dass das Land einer harten Bestrafung entgehen könnte.
Die Türkei hat erklärt, sie sei auf mögliche Sanktionen eingestellt und könne mit Gegenmassnahmen reagieren. In den Medien wird darüber spekuliert, ob damit eine türkische Operation im Nordosten Syriens gemeint sein könnte.

Wie wirkt sich der türkische Deal auf die NATO aus?

Die Türkei ist seit ihrem Beitritt 1952 ein wichtiges Mitglied des nordatlantischen Verteidigungsbündnisses. Nach den USA hat sie das zweitgrösste Heer und schützt die südöstliche Flanke der Allianz.

Einen solchen Fall, in dem ein NATO-Mitglied ein derart hochentwickeltes System von einem potenziellen Feind kauft, hat es bislang nicht gegeben. Der Deal wirft die Frage auf, wie sich die Türkei künftig im Bündnis positioniert und ob sie in russischen Einfluss gerät.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat derweil betont, dass der türkische Beitrag zur NATO viel umfassender sei. Er unterschätze nicht die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem S-400-Kauf, sagte er. Die Türkei sei «aber viel mehr als S-400».

Und aus Ankara selbst kam neben der Verteidigung, dass der Kauf aus Sicherheitsgründen «keine Option, sondern eine Notwendigkeit» gewesen sei, auch eine Versicherung: Verteidigungsminister Hulusi Akar betonte, es gebe keine Veränderung in der «strategischen Orientierung» seines Landes.


Bilder des Tages
Zurück zur Startseite