Kinder auf der Flucht«Mein Vater wurde ermordet, als ich klein war»
Von Martin Arnold und Urs Fitze
6.10.2020
Kinder gehören zu den verletzlichsten Kriegsopfern. Martin Arnold und Urs Fitze stellen in ihrem Buch «Kinder auf der Flucht» junge Menschen vor, die geflüchtet sind, und erzählen ihre Geschichte. Ein Auszug.
Millionen von Kindern und Jugendlichen sind auf der Flucht. Viele von ihnen gelangen auf lebensgefährlichen Wegen nach Europa und in die Schweiz, häufig unbegleitet. Das Drama ist nie vorbei. Das zeigen die aktuellen Bilder aus Idlib oder Lesbos, das zeigt aber auch ein Blick in die Geschichte.
Während sich heute Kinder aus vielen zerrütteten Ländern via Iran, Syrien und die Türkei, durch die Sahara oder auf anderen gefährlichen Pfaden auf den Weg nach Europa machen, kamen sie früher aus europäischen Ländern, beispielsweise auf der Flucht vor der Franco- oder der Hitlerdiktatur und später vor der stalinistischen Verfolgung.
Kinder sind Opfer politischer Machtverhältnisse. Die Schweiz spielte stets eine besondere Rolle, wenn es um Menschen und insbesondere Kinder auf der Flucht ging – im Positiven wie auch im Negativen.
Die beiden Journalisten Martin Arnold und Urs Fitze ziehen in ihrem Buch «Kinder auf der Flucht», welches dieser Tage erschienen ist, mit den Mitteln der historischen Recherche und der Reportage einen Querschnitt durch das 20. und 21. Jahrhundert und beleuchten dabei auch heutige Fragen von humanitärer Hilfe und Integration in der neuen Heimat.
«Bluewin» publiziert exklusiv das Porträt über die 19-jährige Fathia Suleiman aus Somalia. Es handelt sich hier um einen originalen Textauszug. Deshalb erfolgten keine Anpassungen gemäss «Bluewin»-Regeln.
Fathia Suleiman, 19, Somalierin
März 2017
Ein voller, gelber Mond über der Moschee und den Dächern der Altstadt, bunt bemalte Boote am Strand und im Hintergrund weiß getünchte Häuser mit kubischen Formen. Die Bilder von Merka, der somalischen Hafenstadt rund achtzig Kilometer südlich von Mogadischu, sind einladend. Die Stadt hat fast hunderttausend Einwohner. Vom somalischen Bürgerkrieg, der 2006 endete, würde ein Besucher nicht mehr viel sehen. Er könnte auch vor dem radikaleren Islam die Augen verschließen und das azurblaue Meer unter der gleißenden Sonne bewundern. Doch Fathia Suleiman konnte es nicht. Spätestens seit sie gemerkt hat, dass die Buben draußen spielen dürfen und wie Prinzen behandelt werden – sie aber nicht. Denn ihr Geburtsfehler ist ihr Geschlecht. Sie ist ein Mädchen.
«Mein Vater wurde ermordet, als ich klein war. Ich erinnere mich nicht mehr an ihn. Meine Großmutter mütterlicherseits teilte vor ihrem Tod ihr Haus und ihr Grundstück unter ihren zwei Söhnen und der Tochter, meiner Mutter Arfi, auf. Ein Onkel zog inzwischen weg. Er stritt sich zu häufig mit seinem Bruder. Wir wohnen in unserem Teil.» Die Kindheit war trotz der Liebe der Mutter zu Fathia hart. Als Mann und Bruder ihrer Mutter ist der Onkel das Familienoberhaupt. «Er verbot mir den Schulbesuch, doch meine Mutter und ich überlisteten ihn lange Zeit. Sie arbeitete im Gesundheitszentrum und behauptete, sie nehme mich mit zur Arbeit. Stattdessen brachte sie mich zur Schule.» Dort glänzte Fathia, und man glaubt ihr das aufs Wort. Denn nach nur eineinhalb Jahren in der Schweiz spricht sie schon so gut Deutsch, dass man sich gut mit ihr unterhalten kann. Sie blickt mit aufmerksamen Augen unter einem Kopftuch hervor, dessen blau an die Farbe des Meers auf den Bildern ihrer Heimat erinnert. Die Lehrer wollten sie an eine weiterführende Schule schicken, und sie hätte dafür sogar ein Stipendium bekommen. Was andere mit Stolz erfüllen würde, brachte ihren Onkel in Rage. Als radikaler Muslim war er überzeugt, dass Frauen nicht lesen und schreiben lernen sollten. Er drohte Fathia, ihrer Mutter und der Schule mit Konsequenzen, falls das Mädchen dorthin gehen würde. «Stattdessen wollte er mich mit einem 45-jährigen Mann als dessen vierte Ehefrau verheiraten. Ich war erst fünfzehn. Der Gedanke daran war ein Graus.»
Es war nicht nur die Zwangsheirat, die sie wegtrieb, es war auch das Schicksal als Frau, das ihr in der somalischen Gesellschaft blühte: 365 Tage im Jahr gefangen in den eigenen vier Wänden. Die Erlaubnis, das Haus zu verlassen, gibt es nur bei den notwendigen Besorgungen, und dann womöglich nur verschleiert. Alles andere sei zu gefährlich. Sich in der Öffentlichkeit ausgelassen zeigen können Frauen nur beim Fastenbrechen nach dem Ramadan und an Neujahr. Und sonst? Somalia schwankt zwischen prekärem Frieden, Bürgerkrieg und Bandenunwesen mit zu Gewaltfantasien neigenden Kriegsfürsten. Das Land leidet jedes Jahr stärker unter Dürren, die Perspektiven für junge Menschen, zumal für Frauen wie Fathia, sind trostlos. Und dann die Zankereien zu Hause. Fathias Mutter lehnte eine Religion ab, die Frauen benachteiligt. Sie stritt sich so oft mit ihrem Bruder, bis die Situation unerträglich wurde. Die drohende Zwangsheirat gab den Ausschlag. Die Mutter hatte mit ihrem unglücklichen Kind Erbarmen und besorgte Fathia Geld für die Flucht.
Die Route von Fathias Flucht ist untypisch. Sie führte nicht übers Meer oder den Landweg via Griechenland, sondern mit dem Flugzeug nach Moskau. Dort lebte sie wochenlang mit anderen Flüchtlingen in der Unterkunft von Schleppern. Die anderen Flüchtlinge kamen nicht aus Afrika, sondern aus Republiken der ehemaligen Sowjetunion, denn sie sprachen Russisch mit den Schleppern. Nach einer scheinbaren Ewigkeit fuhr Fathia in einer Gruppe weißer Männer in Richtung Ukraine. Vor der Grenze mussten sie aussteigen und einen ermüdenden sechsstündigen Marsch auf sich nehmen. Doch es kam noch schlimmer. An der nächsten Grenze zwischen der Ukraine und der Slowakei lief sie bis zur völligen Erschöpfung fünfzehn Stunden zu Fuß. Von der Slowakei aus brachte sie jemand mit dem Auto nach Wien. Dort bestieg sie einen Zug in die Schweiz und landete im Durchgangszentrum in Kreuzlingen. Insgesamt kostete sie die Flucht 5500 Dollar. Warum die Schweiz? «Ich habe in der Ukraine gehört, die Schweiz sei ein gutes Land, und einige Leute unserer Gruppe wollten dorthin. Ich schloss mich ihnen einfach an. Ich kannte in Europa sowieso niemanden.» Fathia ließ sich treiben wie ein Stück Holz auf dem Meer. «Ich wusste nicht, dass ein Teil von Russland geografisch zu Europa gehört. Von der Schweiz hatte ich vorher nie gehört.» Eine Schwierigkeit, mit der die junge Frau auch nicht gerechnet hatte, war die Sprache. «Ich dachte, man spricht überall in Europa Englisch. Diese fremde Sprache, Deutsch, machte mir am Anfang große Angst.»
In seiner Wut über Fathias Verschwinden verprügelte der Onkel Fathias Mutter und stieß sie die Treppe hinunter. Sein Gewaltausbruch fesselte sie mit einer Rückenverletzung drei Monate ans Bett. Danach musste sie sich einige Wochen in Äthiopien therapieren lassen. Trotz der Radikalität ihres Onkels und dessen schlechtem religiösen Vorbild bezeichnet sich Fathia im Gegensatz zu ihrer Mutter als gläubige Muslima. Sie betet täglich fünfmal und entschuldigt sich, dass sie hier nicht gottgefällig leben könne. «Zum Beispiel sollte ich einem Mann nicht die Hand geben, aber ich habe sie Ihnen gegeben.» Wo im Koran dieses Verbot stehe, kann sie nicht sagen. Wer mit dem Volksislam aufwächst, hinterfragt kaum Gebote und Verbote, Traditionen und Regeln. Doch viele islamische Theologen behaupten, die Regel, einem Mann nicht die Hand zu geben, lasse sich gar nicht auf den Koran zurückführen. Vielleicht geht es Fathia bei ihrer Religiosität auch um eine Verbindung zu den Ritualen von früher. Die gleiche Bedeutung kommt der Musik zu. Fathia kramt ihr Smartphone aus der Tasche und lässt ziemlich schnell Musik erklingen. Die somalische Schlagersängerin Deequa Gaydh singt mit der leicht gepressten Tonlage eines Handys die übersetzten Zeilen: «Wenn dein Herz nicht mehr schlägt, gebe ich dir meines.» Für Fathia sind die Gedanken an ihre Heimat voller Klänge, Farben und Gerüche. Und voller Tiere. Es gebe dort viel mehr verschiedene Rinder-, Schaf- und Ziegenrassen. Alles ist anders. Selbst das Gras, aus dem die Frauen Teppiche weben. Die Kälte war ein Schock, denn wenn es in Somalia 10 Grad über null ist, sprechen die Menschen schon von einer außergewöhnlichen Kälte. Fathia vermisst die konstante Wärme ihrer Heimat, Kamelfleisch und -milch – und vor allem die Sprache. Sie würde gerne somalische Bücher lesen und wieder einmal die intensiven Fruchtaromen in ihrem Gaumen spüren, wenn sie eine Mango vom Baum oder eine Banane von einer Staude pflückt.
Fathia hat Ziele: Mit dem B-Ausweis als anerkannter Flüchtling darf sie reisen, ohne das Aufenthaltsrecht in der Schweiz zu verlieren. Im Frühling ist sie das erste Mal als Touristin ins Ausland gefahren – nach Hamburg, um eine Freundin zu besuchen. Zudem möchte sie nach einer Anlehre eine Ausbildung als Fachfrau für Gesundheit machen, in der Freizeit ihre neu gewonnenen Freundinnen treffen und irgendwann ihren Freund heiraten, der in Somalia studiert. Doch daran, wie das Zusammenkommen organisiert werden soll, möchte sie nicht denken. Sie ahnt, dass es schwierig werden könnte. Doch nach Somalia will Fathia nicht zurück. Nicht, solange ihr Onkel sie noch zurückverlangt. Zur Mutter hält Fathia Kontakt, sie hat ihr ein Handy geschickt. Während eines Gesprächs sagte ihre Mutter ihr, sie wolle nicht nach Europa kommen. Sie möchte trotz allem ihre Heimat nicht verlassen.
Juni 2017
Elegant wirkt sie in ihrem zitronengelben, langen Kleid und ihrem dreifarbigen Schal in den Farben Weiß, Blau und Lila, den sie zu einem Kopftuch gebunden hat. Fathia kommt geschminkt zum zweiten Treffen kurz vor ihren Sommerferien. Sie sagt: «Ich würde das Kopftuch gerne bei meiner Arbeit tragen. Der Chef sagt aber, dass bei uns Leute aus so vielen Ländern arbeiten, dass Religion absolut keine Rolle spielen darf.» Wahrscheinlich auch besser so, denn im Altersheim hat Fathia viel Kontakt mit Menschen, und eine Diskussion über Religion kann schnell heikel werden. Auf Fathias schmalem Unterarm prangt eine Armbanduhr, deren Zifferblatt fast breiter ist als ihr Handgelenk. Fathia lächelt verlegen. «Ich habe sie im Internet gekauft. Auf dem Bild sah sie kleiner aus.»
In wenigen Stunden beginnen Fathias Ferien. Sie besucht in Zürich eine somalische Freundin aus Mogadischu, die sie vor zwei Jahren bei einem somalischen Fest in Zürich kennengelernt hat. Fathia freut sich auf die Kinder ihrer Freundin und auf die Ausflüge, die sie zusammen machen werden. Nach ihrer Rückkehr nach St. Gallen wird sie noch einige Tage frei haben. Die will sie für einige Ausflüge mit «Mama Ruth» nutzen. Mama Ruth ist Ruth Weymuth, die Vermieterin von Fathias Zimmer. Inzwischen ist sie für Fathia viel mehr, nämlich Mutter und Freundin gleichzeitig. Und Ruths ältere drei Kinder zwischen 25 und 35 nennt Fathia Bruder und Schwester. Die Weymuths sind mehr als nur eine Ersatzfamilie, denn Geschwister hat Fathia in Somalia gar nicht. Sie sind jetzt Fathias Heimat. «Ruth gefällt mir», sagt sie ganz direkt, und für weiteres Lob fehlt ihr etwas der Wortschatz.
Fathia blickt zurück in die Anfangszeit in der Schweiz. Sie kam ins Durchgangszentrum nach Kreuzlingen, aber sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Sie war nur überrascht, dass man hier nicht Englisch sprach. Die vielen Länder und Sprachen hatte sie in Europa nicht erwartet. Die Erstbefragung, weitere Gespräche und die Frage der Platzierung dauern auch bei Jugendlichen ihre Zeit. «Ein Monat nur schlafen, essen und herumsitzen – das war schlimm», erinnert sich Fathia. Eine Sicherheitsangestellte vermittelte sie für sechs Tage an einen Secondhand-Shop, wo sie für etwas Geld Aufräumarbeiten übernahm. Dann kam sie für ein Jahr in die Institution Thurhof bei Uzwil, wo der Kanton St. Gallen viele Kinderflüchtlinge unterbrachte. Neben dem Deutschunterricht nahm sie an einem Programm mit vier Schwerpunkten teil: Nähen, Kochen, Metallarbeit und Fahrradreparatur. Fathia reparierte Fahrräder. Und zwar so gut, dass ihr Betreuer vorschlug, sie solle Automechanikerin werden. Doch Fathia hat ein anderes Ziel: im Gesundheitswesen Fuß fassen und vielleicht eines Tages, wenn es Frieden gibt, nach Somalia zurückkehren. Ein kurzes Vorstellungsgespräch und ein Schnuppern in einem Altersheim überzeugte die Leitung, Fathia wurde ein einjähriges Praktikum angeboten. Nach den Ferien wird daraus eine zweijährige Lehre. «Der Chef und meine Mitarbeiter sind sehr nett. Sie helfen, wenn ich etwas nicht verstehe. Die Arbeit ist nicht schwierig. Ich mag die alten Menschen. Mich hat nie jemand böse angesprochen, weil ich eine dunkle Hautfarbe habe.»
In der Freizeit kontaktiert sie ihre Freundinnen. Sie nutzt WhatsApp, Facebook und andere soziale Medien wie alle Jugendlichen. Ihr Freundeskreis ist breit geworden. Es sind Mädchen aus der Schweiz, Serbien, Syrien, Spanien, Eritrea und Afghanistan darunter. Die afghanische Freundin ist gleich alt und wie sie geflüchtet. «Sie versteht mich, wenn wir von der Einsamkeit sprechen.» Doch Fathia hat auch eine Schweizer Freundin. Sie hat sie bei einem Projekt kennengelernt, bei dem Flüchtlinge mit Lehrern einen Spaziergang machen, in die Natur, in die Stadt oder auf den Markt. Wo immer sie hingehen, benennen sie die Dinge und üben die Wörter. Flucht und Alleinsein sei für die Schweizer Freundin bisher nie ein Thema gewesen. Es scheint sie nicht zu interessieren. Fathia stört das nicht.
«Es kommt manchmal vor, dass ich traurig bin. Dann muss ich sofort mit meiner Mutter telefonieren. Sie beruhigt mich.» Spaziergänge in der Natur helfen Fathia, innerlich zur Ruhe zu kommen. Doch sie macht sich Sorgen um ihre Mutter. Sie hatte wieder Gesundheitsprobleme mit ihrem Rücken. Ihre Mutter hätte Geschäftsführerin eines lokalen Ablegers einer UN-Frauenorganisation werden können, die sich für die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Stärkung der Frauen einsetzt. Fathias Mutter hat auf den Posten verzichtet, stattdessen ist sie nun Mitarbeiterin. Die Hälfte der bisherigen Geschäftsführerinnen wurde von islamistischen Fanatikern ermordet. «Ich bin froh, dass sie die Stelle nicht angenommen hat, obwohl der Führungsposten sehr gut bezahlt gewesen wäre. Aber die Terroristen bringen alle um, die anders denken.»
Jahreswende 2017/18
Es liegt Schnee und es ist kalt. Das stört Fathia nicht. Für sie geht ein gutes Jahr zu Ende. Sie hat eine Lehrstelle in einem Alters- und Pflegeheim angetreten und sie fühlt sich nach einem halben Jahr noch immer wohl. Zur zweijährigen Lehre als Pflegeassistentin gehört auch der wöchentliche Schulbesuch. Als sie darüber spricht, schleicht sich zuerst ein Missverständnis ein. Ihre Aussage «Ich lerne dort nicht so schnell» zieht die Frage nach sich, ob es Sprachprobleme gebe. Doch das ist es nicht. Fathia findet, es werde zu lange dasselbe Thema behandelt. Sie würde gerne schneller und mehr lernen. Mit den Fächern Pflege, Sprache und Kommunikation hat sie keine Probleme, nur das Fach Gesellschaftsrecht stellt sie manchmal vor Schwierigkeiten. Dann lässt sie sich die Juristensprache an ihrer Arbeitsstelle mit praktischen Beispielen erklären.
Als Ausgleich hat sich Fathia ein neues Hobby zugelegt. Fast schüchtern zieht sie ihr Handy hervor und huscht mit dem Zeigefinger über den Bildschirm. Bilder sausen vorbei, bis sie bei einem Foto haltmacht, das ihre türkische Freundin zeigt, die sich auf Heimaturlaub ein Kleid von ihrem Vater hat schneidern lassen, das Fathia gezeichnet hat. «Manchmal habe ich Bilder von schönen Kleidern im Kopf. Dann möchte ich sie sofort zeichnen», sagt sie und kramt aus ihrem Rucksack ein Papier mit Kleiderskizzen hervor. Es sind leichte, feminine Kleider. Ihre afrikanische Herkunft ist unübersehbar. Sie will nun einen Nähkurs besuchen und dann die Kleider selber auf einer alten Bernina-Maschine nähen, die ihr ihre «Schwester», eine Tochter von Ruth Weymuth, gegeben hat.
Fathias Mutter hatte in der Zwischenzeit erneut gesundheitliche Probleme, wurde wegen Bluthochdruck behandelt, doch jetzt arbeitet sie wieder. Noch immer ist sie bei der UN-Frauenorganisation angestellt. Fathia ängstigt sich um sie. «Es ist mit den Terroristen sogar schlimmer geworden. Wir telefonieren jeden Tag. Wenn ich sie einmal nicht erreiche, denke ich, man hat ihr etwas getan. Ich habe sie gebeten, zu fliehen. Ich hätte sie gerne hier. Aber sie will dort bleiben, denn sie hat ja noch die Kinder.» Welche Kinder? Komplizierte Familienverhältnisse: Fathia hatte eine ältere Schwester, die nach der Geburt ihres ersten Kindes gestorben ist. Damals war Fathia sieben Jahre alt. Das Kind blieb nicht beim Vater, sondern kam zur Großmutter und wurde so Fathias Schwester. Sie ist jetzt zwölf Jahre alt. Außerdem lebt das Kind eines Onkels noch bei der Mutter. «So ist das bei uns», sagt Fathia. «Als ein Cousin mit seiner Frau bei einem Autounfall starb, wurden die Kinder unter den Verwandten im Dorf verteilt. Da gibt es keine Ämter, die sich um die Kinder kümmern. Viele Mütter sterben bei der Geburt, viele Kinder an Krankheiten. Es gibt keine guten Spitäler.» Fathias Blick verliert sich im Leeren. Der kulturelle Kontrast muss für sie hart sein. Während in Somalia kleine Kinder sterben, weil die medizinische Versorgung fehlt, wird hier alles getan, um ein Menschenleben zu erhalten. «Ich pflege gerne alte Menschen», erklärt Fathia. «Ich mag sie und hoffe, dass sie mich auch mögen.» Immerhin hat Fathia hier ihre zweite Familie, ihre Gastfamilie, mit der sie weiterhin ein gutes Verhältnis pflegt. An Neujahr hat Fathia elf Personen eingeladen, für die sie kochen will. Desserts seien ihre Spezialität, aber auch mit Fleisch oder Gemüse gefüllte Teigtaschen, Sambusa, die mit Saucen gegessen werden, bereite sie lecker zu.
Ihren Freund Mohammed vermisst Fathia sehr, aber sein Studium dauert noch zwei Jahre. Und dann? Wieder verliert sich Fathias Blick im Leeren. Ihr Status ist zwar sicher, sicher ist aber auch, dass Mohammeds somalisches Medizinstudium in der Schweiz nicht anerkannt würde. Die Gedanken an die Zukunft sind bei Fathia nie ungetrübt. «Ich wäre froh, wenn er in die Schweiz kommen würde, aber er könnte nicht als Arzt arbeiten.» Die Schwere, die sie durch ihr Schicksal immer begleiten wird, kann sie glücklicherweise immer wieder abstreifen. Dann ist sie ein normaler Teenager von 17 Jahren. Sie macht Fitness, spielt mit Freundinnen Tennis oder spaziert mit ihnen. Sie holt ein wenig nach, was sie als Kind nicht hatte und das ist gut so.
Juni 2019
Es ist für Geflüchtete ein gutes Zeichen, wenn es während eines Jahres nicht so viel zu berichten gibt. Vor allem für Menschen, die über Jahre vor allem traurige Entwicklungen gewohnt waren. Fathia ist zur Ruhe gekommen. Sie empfindet die Schweiz als ihre neue Heimat. In den vergangenen zwei Jahren hat sie sich zunehmend auf die Schweizer Kultur eingelassen: auf die Bräuche, die Feste, das Essen. Sie fühlt, dass sie allmählich ein Teil dieser Gesellschaft wird. Doch im Rückblick stellt sie fest: «Ich habe mich in den ersten zwei Jahren doch sehr einsam gefühlt. Jetzt habe ich Freundinnen und Freunde, habe meine neue Familie hier und die Flucht ist weit weg.» Doch sie vergisst ihr altes Leben nicht. Sie will es nicht vergessen. Noch immer telefoniert sie täglich mit ihrer Mutter. Ihre Lehre als Assistentin für Gesundheit und Soziales hat Fathia abgeschlossen. Nach den Sommerferien wird sie sich zur Fachfrau Gesundheit (FAG) weiterbilden. Daneben wird sie in Abendkursen als Hobby mit Zukunftspotenzial einen Schneiderkurs besuchen. Stolz zeigt sie ihre Entwürfe. Zu sehen sind neben Skizzen auch farbig ausgemalte Entwürfe von festlichen Abendkleidern, kurzen Röcken, Mänteln und anderen Kleidungsstücken. Sie verfügt über zwei Nähmaschinen. Damit hat sie die Möglichkeit, ihre eigenen Entwürfe zu realisieren. Die ersten Kundinnen im privaten Umfeld hat sie bereits.
Die frühsommerliche Wärme dieses Jahres verbindet Fathia mit heftiger Vorfreude. Sie wird bald ihre Mutter und die Kinder wiedersehen. Das erste Mal seit vier Jahren. Dafür fliegt sie in die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba. Die Kinder sind Fathias Nichte und ein fremder Junge, um den sich ihre Mutter kümmert. Vor allem aber wird Mohammed, ihr Freund, dabei sein. Er hat sich von seiner Zwangsheirat befreit und sich scheiden lassen. Als Konsequenz seines Widerstands gegen diesen Entscheid beendete sein Vater den Kontakt mit ihm. Das Medizinstudium musste Mohammed abbrechen. Er lebt relativ mittellos in Äthiopien. Die beiden möchten sich nun verloben. Ihr Ziel ist eine Heirat und ein gemeinsames Leben in der Schweiz. Dazu werden sie noch viele Hindernisse überwinden müssen. Doch Fathia hat in den letzten Jahren ihren Lebenswillen wiedergefunden. Bestimmt sagt sie: «Ich bin für meine Zukunft sehr optimistisch.» Und dann formuliert sie klare Vorstellungen. «Ich möchte nicht sofort Kinder. Ich möchte arbeiten. Mohammed muss die Sprache lernen und dann auch arbeiten. Dann kommt es gut.»
Dezember 2019
Im vergangenen Juli hat Fathia ihren Freund Mohammed in Äthiopien geheiratet. In Äthiopien schlägt sich der junge Mann, der Arzt werden wollte, mit Gelegenheitsarbeiten durch. Inzwischen hat Fathia neue Zukunftspläne entwickelt. Sie möchte Psychologin werden. Und natürlich träumt sie davon, ihren Mann in die Schweiz zu holen. Illusionen gibt sie sich nicht hin. Sie sagt: «Das wird sehr schwierig werden.»
Bibliografie: «Kinder auf der Flucht, Humanitäre Hilfe und Integration in der Schweiz vom Ersten Weltkrieg bis heute», Martin Arnold und Urs Fitze, Rotpunktverlag, 240 Seiten, ca. 34 Fr.