Ich, der Legastheniker«Ich bin nicht dumm, ich habe eine Rechtschreibestörung»
Von Bruno Bötschi
15.10.2023
In der Schweiz soll jede*r Zwanzigste davon betroffen sein. Darüber gesprochen wird aber kaum. Dabei hat eine Rechtschreibstörung nichts mit Intelligenz oder Faulheit zu tun. Das weiss ich aus eigener Erfahrung.
In der Primarschule hatte ich oft Probleme mit den Buchstaben «B» und «D.» Die «das/dass»-Regel blieb mir in vielen Fällen ebenfalls schleierhaft. Und auch die Kommas meinten es in der Mehrzahl der Fälle nicht gut mit mir.
So war bei jedem Diktat der Absturz bereits vorprogrammiert — insbesondere dann, wenn die Lehrperson die Kommas nicht ansagte. Da wurde jeder Satz zur Herausforderung.
Den peinlichsten Auftritt in der Schulbank hatte ich in der fünften Klasse: Es war ein Diktat mit Ansage der Kommas.
Als der Lehrer am nächsten Tag die Prüfungen verteilte, meinte er: «Und dann wäre hier noch das Diktat von Bruno. Er hat insgesamt 23 Fehler gemacht. 17 davon sind Komma-Fehler und das, obwohl ich alle Kommas angesagt habe.»
Der «Nollen» wurde bei mir zum «Knollen»
Ich leide zum Glück nur an einer leichten Form der Legasthenie.
Lese- und Rechtschreibstörung sind keine Frage von mangelnder Intelligenz oder gar von Faulheit: In Tests zeigte ich ein gutes abstraktes Denken. Trotzdem bereiteten mir Worte mit dem Buchstaben «B» und «D» Mühe.
Während bei anderen Menschen das Gehirn Buchstaben und Laute problemlos erkennt und zusammenführt, geht dies bei uns Legastheniker*innen nur eingeschränkt.
Der «Nollen», ein Hügel in meinem Heimatkanton Thurgau, wurde bei mir zu «Knollen». Der Klang ist zwar ähnlich, aber das Wort ist falsch geschrieben.
«De Papst hed s Bsteck z schpot bschtellt»
Legasthenie ist unheilbar, genau wie die weniger bekannte Lernstörung Dyskalkulie, die Rechenstörung. Doch in Therapien mit Heilpädagoginnen oder Logopäden kann der Mensch sich Fähigkeiten und Strategien dagegen antrainieren.
In der Primarschule besucht ich deshalb während zwei Jahren den Legasthenie-Unterricht. Ich erinnere mich noch gut, wie ich mich in der ersten Stunde mit dem Satz «De Papst hed s Bsteck z schpot bschtellt» abmühte.
Ansonsten fand ich den Nachhilfeunterricht aber immer sehr cool. Vielleicht hatte dies auch ein bisschen damit zu tun, weil ich ein Streber war.
Viel wichtiger war jedoch: Frau Müller und Herr Ruckstuhl waren überaus kompetente Lehrpersonen. Sie stellten mich nicht bloss wie mein Lehrer in der fünften Klasse nach dem Diktat.
Sie behandelten mich als Mensch und nicht als Kind mit Grammatik-Schwierigkeiten. Und sie schafften es, mir Lust auf Buchstaben und Wörter zu machen und irgendwann die Angst vor Fehlern zu nehmen.
Fazit 1: Ich bin nicht dumm, ich habe eine Rechtschreibestörung.
Fazit 2: In der Oberstufe wurde das Aufsatzschreiben zu meinem Lieblingsfach. Ein Jahrzehnt später besuchte ich das MAZ in Luzern und liess mich zum Journalisten ausbilden.
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