17 Tage im Koma«Verdammt noch mal, du kannst nicht einfach so abhauen»
Von Bruno Bötschi
23.10.2021
Ein Hexenschuss zwang seinen Freund ins Bett. Nach mehreren Spritzen ging es ihm noch schlechter, er musste ins Spital. Dort versetzten ihn die Ärzte in ein künstliches Koma. Unser Autor erinnert sich im Tagebuch.
Von Bruno Bötschi
23.10.2021, 09:50
Bruno Bötschi
Die hier geschilderten Ereignisse liegen 20 Jahre zurück. Für den Autoren wird es immer so sein, als wäre das alles gerade erst gestern geschehen.
Tag 1: Ich bin auf dem Weg zu einem Geschäftsessen. Es ist kurz vor halb fünf am Abend, als ich meinen Freund anrufe. Alexander* leidet an Hexenschuss. Er liegt daheim im Bett und kann seit drei Tagen kaum mehr sitzen. Sein Hausarzt hat ihm mehrere Spritzen verpasst. Ins Spital will er nicht.
Während ich mit meinem Freund am Handy spreche, merke ich plötzlich, dass er immer wieder Sätze wiederholt und ihm Worte durcheinanderkommen. «Was ist los?», frage ich. Mit einem knappen «Nichts!» will Alexander meine Sorgen wegwischen. Mein Freund mag es nicht, wenn man ihm widerspricht. Er sagt: «Du gehst jetzt an dieses Essen. Es ist wichtig.»
Kaum ist das Telefonat zu Ende, rufe ich in unserem Büro an. Es solle bitte sofort jemand bei Alexander vorbeigehen, irgendetwas stimme nicht mit ihm. Während des Essens bin ich wie auf Nadeln. Gegen 21 Uhr bekomme ich einen Anruf: Alexander sei im Spital, er wolle mich sehen. Ich fahre sofort los.
Mein Freund liegt in der Notaufnahme. Er hat schreckliche Schmerzen. Sein ganzer Körper tut weh. Er sagt: «Alles wird gut.» Die Ärztin sagt: «Sie müssen jetzt gehen.» Er sagt: «Bleib noch da.»
Tag 2: Frühmorgens fliege ich für eine Reportage nach Irland. Die Reise ist seit Langem geplant, doch jetzt fühlt es sich an, als liesse ich Alexander allein. Gegen Abend ruft das Spital an. Über Nacht sind die Schmerzen noch schlimmer geworden. Mein Freund ist auf die Intensivstation verlegt worden. Man werde ihn nun ins künstliche Koma versetzen, um seinem Körper mehr Ruhe zu gönnen. «Alles nur eine Vorsichtsmassnahme», beruhigt mich die Ärztin am Telefon. Ich will zurück. Sofort.
Tag 3: Gegen Mittag lande ich in Zürich. Im Spital liegt Alexander im künstlichen Koma. Er ist verkabelt, wird beatmet. Ein Schlauch wächst aus einem Mund. Auf dem Monitor über ihm sind unregelmässig pulsierende Linien zu sehen. Es blinkt und immer wieder piepst es. Meine Gefühle fahren Achterbahn. Ich habe Angst. Todesangst. Die Ärztin sagt etwas von einer Sepsis und erwähnt Staphylokokken und Streptokokken. Ich verstehe Bahnhof. Nach einer halben Stunde ist mir derart schlecht, dass ich nach Hause gehen muss.
Tag 4: Kaum wach, rufe ich im Spital an. Die Werte von Alexander haben sich leicht verbessert, sagt die Intensivpflegerin. Die Therapie mit Antibiotika schlage an. Heute stünden weitere Untersuchungen an. Ich freue mich über den Fortschritt und gehe ins Büro. Ablenkung tut gut.
Am Abend fahre ich ins Spital. Mein Freund liegt unbeweglich da, einzig sein Brustkorb bewegt sich gleichmässig auf und ab. Ich berühre seine Hand, rede mit ihm: «Was machst du nur für Sachen?» Irgendwo habe ich einmal gelesen, die Wahrnehmung der Stimmen von Freunden und Familienmitgliedern können den Genesungsprozess von Komapatienten beschleunigen.
Wird mein Freund bald sterben?
Tag 5: Nachricht aus dem Spital: Alexanders Werte sind nochmals leicht besser geworden. Am Abend zuvor habe ich daheim noch etwas recherchiert. Was sind das für Kokken, die meinem Freund das Leben zur Hölle machen?
Streptokokken leben auf der Schleimhaut und können Krankheiten wie Halsentzündungen, Scharlach, Haut- und Wundinfektionen auslösen. Staphylokokken leben auf der menschlichen Haut und Schleimhaut.
Manche dieser Bakterien können Haut- und Wundinfektionen, Lungen- und Herzklappenentzündungen sowie Hirnhautentzündungen verursachen. Und manche von ihnen enden in schweren Fällen tödlich, weil sie ein Multiorgan-Versagen auslösen können, eine Sepsis also. Ich bleibe zwei Stunden am Bett meines Freundes sitzen.
Tag 6: Während der Nacht sind die Werte von Alexander schlechter geworden. Die Nachricht aus dem Spital wirkt wie ein Faustschlag. Eine mögliche Herzklappenentzündung, sagt ein Arzt, sei jedoch erst in einigen Tagen erkennbar. In diesem Fall würde eine Herz-Operation unumgänglich.
Dafür müsste mein Freund in die Klinik für Herzchirurgie im Universitätsspital verlegt werden. Noch sei es aber nicht so weit, sagt der Arzt. Ich fühle mich machtlos, bin gleichzeitig wütend und habe Angst. Wird mein Freund bald sterben? Nur mit Mühe vertreibe ich abends im Bett diese Gedanken und schlafe irgendwann doch noch ein.
Tag 7: Alexander liegt wie leblos im Spitalbett. Ich lese ihm aus dem neuesten Asterix-Band vor. Mein Freund liebt Comics und die Abenteuer der Gallier ganz besonders. Später wundere ich mich, wie schnell ich mich an die Situation auf der Intensivstation gewöhnt habe. Hat mich das ständige Piepsen und Gewirr der Schläuche während der ersten zwei, drei Tage noch aufgeschreckt und nervös gemacht, bleibe ich jetzt, zumindest äusserlich, einigermassen ruhig. Und das, obwohl das Antibiotikum weiter an Wirkkraft verloren hat. Ich frage einen Arzt, ob mein Freund nicht schon heute vorsorglich ins Universitätsspital überwiesen werden könne. Nein, sagt er.
Tag 8: Das Wetter ist grau und trüb, genauso wie meine Stimmung. Heute werden Alexanders Herzklappen untersucht. Um mich abzulenken, haben mich Freunde zum Mittagessen eingeladen. Ich habe Angst, schaue ständig auf mein Handy und merke nicht, dass ich es auf lautlos eingestellt habe. Vor lauter Nervosität realisiere ich erst beim Verlassen des Restaurants, dass das Spital angerufen hat. Ich rufe sofort zurück und bekomme die nächste schlechte Nachricht.
Die Staphylokokken haben den Weg zum Herz gefunden. Alexander muss operiert werden. Der Transport vom Spital in die Uniklinik kann wegen des schlechten Wetters aber nicht mit dem Helikopter vonstattengehen, sondern mit dem Krankenwagen. Ich fahre zurück ins Büro, starre kopflos auf den Bildschirm, nach zwei Stunden gehe ich heim. Am Abend ruft mich ein Arzt der Klinik für Herzchirurgie an. Der Transport sei gut verlaufen, dem Eingriff stehe nichts im Weg.
Tag 9: Am Morgen vor der Operation darf ich meinen Freund nochmals besuchen. Im Rundbau der Intensivstation haben die Patienten, anders als im Spital, keine eigenen Zimmer. Sie liegen stattdessen nebeneinander, sind nur durch Vorhänge getrennt. Privatsphäre gibt es nicht, dafür noch mehr Schläuche, Maschinen und Monitore.
Ich stehe an seinem Bett und überlege, was geschehen würde, wenn er die Operation nicht überlebt? Ich kriege keinen klaren Gedanken zusammen. Am liebsten würde ich meinen Freund jetzt schütteln, aufwecken und anschreien: «Verdammt noch mal, du kannst nicht einfach so abhauen!»
Als eine Intensivpflegerin vorbeikommt, um seinen Puls zu kontrollieren, frage ich, wo ich mich im Falle seines Todes verabschieden könne. Die Frau scheint sich solche Fragen gewohnt zu sein. «Es kommt alles gut», sagt sie ruhig. Als mein Freund weggeschoben wird, ist es mit meiner Contenance aus. Mir laufen Tränen über das Gesicht. Zum Glück ist eine Krankenpflegerin da, die mich in den Arm nimmt.
Wird doch noch alles gut?
Die Operation soll acht Stunden dauern. Ein Arzt erklärt mir, dass ich nicht vor 20 Uhr anrufen dürfe, um nachzufragen, ob alles gut verlaufen ist. Ich frage mich derweil, wie ich diesen Tag überstehen soll. Ich versuche es wieder mit dem Ablenkungsmanöver Arbeit, bis meine Verzweiflung kurz nach dem Mittag zu gross wird. Ich rufe eine Freundin an, sie kommt mit mir spazieren. Wir gehen zusammen ziellos durch die Stadt. Unendlich lange Wartezeit.
Dann. Endlich. 20 Uhr. Ich zittere, als ich die Nummer des Unispitals in mein Handy tippe. Eine Ärztin sagt: «Ihr Freund lebt, die Operation ist gut verlaufen.» Einen Moment lang ist mir schwarz vor Augen, dann heule ich los. Wird doch noch alles gut?
Tag 10: Seit fast einer Stunde sitze ich im Wartezimmer der Intensivstation der Klinik für Herzchirurgie. Es ist winzig und stickig, ein klitzekleines Fenster gibt den Blick in die Intensivstation frei. Irgendwann halte ich die Enge nicht mehr aus und spaziere den Gang gedankenverloren rauf und runter. Als mir auch dies verleidet ist, setze ich mich am Rand des Korridors auf den Boden. Keine gute Idee, wie mir wenig später ein Arzt in knappen Worten klarmacht: «Nicht erlaubt!»
Dann darf ich endlich zu meinem Freund. Mir stockt der Atem, als ich ihn sehe. Sein Körper ist total aufgedunsen. Die Krankenpflegerin, die seinen Puls kontrolliert, bemerkt zum Glück meine Unsicherheit. Die Einlagerung von Wasser nach grossen Operationen, erklärt sie mir, sei eine ganz normale Reaktion des menschlichen Körpers.
Tag 11: Gute Nachricht aus der Intensivstation: Alexanders Herz hat die Operation offenbar gut überstanden. Die neuen Klappen arbeiten anständig. Die Funktion der Lunge sei jedoch nach wie vor beeinträchtigt. Er ist deshalb immer noch an der Herz-Lungen-Maschine angeschlossen und sein Brustkorb, der Thorax, noch offen. An die Maschine wurde er vor der Operation angeschlossen, damit sein Herz stillgelegt und gleichzeitig der Kreislauf mit der Sauerstoffversorgung aufrechterhalten werden kann.
Tag 12: Am Abend fahre ich in die Klinik und habe Glück: Ich werde nicht ins Wartezimmer abgeschoben. Das Gefühl wird noch besser, als ich am Bett von Alexander stehe: Er ist nicht mehr aufgedunsen. Dafür sind seine Unterschenkel einbandagiert. Man habe, erklärt mir ein Arzt, mit je einem Schnitt in den Schenkeln das Entwässern des Körpers beschleunigt. Mir wird schlecht. Ich setze mich auf einen Stuhl, schaue zum Fenster hinaus und frage mich: Wie viel bekommt Alexander von all dem mit?
Tag 13: Als ich am Morgen das Unispital anrufe, will man mich nicht mit der Intensivstation der Klinik für Herzchirurgie verbinden. Während sich mein Magen zu drehen beginnt, versuche ich krampfhaft nett zu bleiben: «Ich bin nicht ein Freund, bin sein Freund.» Antwort: «Wir dürfen nur Familienangehörige durchstellen.» Ich sage nochmals laut und deutlich, dass ich nicht ein, sondern sein Freund bin. Jetzt endlich realisiert die Frau auf der anderen Seite des Telefons, wer ich bin. Ohne ein Wort der Entschuldigung stellt sie mich durch.
Tag 14: Eine befreundete Familie hat mich zum Essen eingeladen. Weil der Vater am Abend noch sein Auto aus dem Service abholen will, begleitet er mich auf der Rückfahrt. Während wir auf der Autobahn sind, klingelt mein Handy. Das Unispital ruft an, deshalb tue ich Verbotenes und nehme ab.
Ein mir unbekannter Arzt ist am Apparat. Seinen Namen verstehe ich nicht, derweil kommt er sofort zum Grund seines Anrufes: «Ihr Freund ist nach wie vor an der Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Das kann so nicht ewig weitergehen. In spätestens zwei Tagen stellen wir die Maschine ab.»
Ich werde kreidebleich im Gesicht, fange an zu zittern und bin unfähig, irgendwelche Nachfragen zu stellen. Kaum ist das Telefonat beendet, fahre ich auf den Pannenstreifen und heule los. Mein Beifahrer versucht mich zu trösten. Es gelingt ihm nicht. Irgendwann raffe ich mich selber auf und kann weiterfahren.
Tag 15: Im Universitätsspital treffe ich als Ersten im Korridor den Arzt, der mir am Abend zuvor per Telefon die Hiobsbotschaft überbracht hat. Gern würde ich ihn zur Rede stellen, allein mir fehlt die Kraft dazu.
Tag 16: Die Herz-Lungen-Maschine pumpt weiter Blut durch Alexander Körpers. Und die Zahlen auf dem Monitor wollen nicht besser werden. «Sein Herz ist stark», macht ein Arzt mir Mut. Ich frage ihn, ob die Maschine heute wirklich abgestellt wird? «Nein, das ist nicht geplant.» Die an sich gute Nachricht kommt bei mir nicht richtig gut an. Niedergeschlagen fahre ich nach Hause.
War meine Vorahnung richtig?
Tag 17: Termin beim Chefarzt der Herzchirurgie: Statt um 8 Uhr früh in seinem Büro zu sitzen, stehe ich jedoch im Stau. Ich bin knapp vor dem Durchdrehen. Als ich endlich in der Klinik ankomme, ist der Chefarzt bereits anderweitig beschäftigt. Ich werde ins Wartezimmer verbannt. Zwei Stunden später darf ich doch noch bei ihm vorbeigehen. Nach wie vor gebe es keine Entwarnung, sagt er, um danach ebenfalls zu betonen, dass Alexander ein starkes Herz habe.
Am Nachmittag spüre ich plötzlich, dass etwas nicht stimmt. So wie eine Eingebung, wie ich sie manchmal habe, wenn ich an einen Menschen denke, und sie oder er sich wenig später bei mir meldet. In diesem Moment bin ich sicher, dass mein Freund nicht mehr lange leben wird und heule los. Abends gehe ich mit Freunden essen. Ich weiss, es wird für lange der letzte Abend mit einigen lustigen Momenten sein.
Tag 18: Ein nebliger Tag. Ich fahre bereits frühmorgens ins Unispital, darf jedoch nicht zu Alexander rein. Warten im Wartezimmer. Die Ärzte diskutieren darüber, ob heute Morgen sein Brustkorb geschlossen werden soll. Nachdem die Operation auf den Nachmittag verschoben wird, darf ich endlich zu Alexander. Irgendwann sagt eine Krankenschwester: «Ruhen Sie sich ein bisschen aus. Gehen Sie etwas essen und kommen Sie um 14 Uhr wieder.»
Ich gehe ins Restaurant, bestelle einen Salat und bringe keinen Bissen runter. Als ich zwei Stunden später wieder am Bett meines Freundes stehe, sehe ich auf dem Monitor sofort, dass sein Herzschlag nochmals viel schwächer geworden ist. War meine Vorahnung richtig? Mir wird schlecht und ich fange an zu weinen.
Irgendwann werde ich wieder ins Wartezimmer verfrachtet. Kaum bin ich dort, holt mich eine Ärztin zurück. Der Blick auf den Monitor macht mir sofort klar, warum: Ich nehme die Hand von meinem Freund, während er geht. Sekunden später laufen die Linien auf dem Monitor flach aus, die Zahlen stehen alle auf null. Nur der Brustkorb von Alexander geht noch auf und ab, weil die Herz-Lungen-Maschine nach wie vor Blut durch seinen Körper pumpt.
Dann ist es einen Moment ganz still. Ich schaue zum Fenster hinaus. Irgendwo in der Ferne gibt der Nebel ein Licht frei. Bitte, bitte, denke ich, lass das alles nur ein schrecklicher Traum sein. Bitte, ich will endlich aufwachen.
* Name geändert
Trauerbegleitung: Wenn die Seele Hilfe braucht
Der Tod eines geliebten Menschen versetzt Angehörige in eine Ausnahmesituation. Gedanken können in dieser Zeit nur schwer gefasst werden, weil Trauer die Gefühle bestimmt. Oft tut in dieser Situation Hilfe von aussen Not. Die Unterstützung von Familien und Freunden ist hilfreich, meist stossen nahestehende Menschen jedoch selbst an ihre Grenzen. In einem solchen Fall kann eine professionelle Trauerbegleitung weiterhelfen und Beistand leisten.