Corona und die Kultur (1) «Es wird eine Explosion der Lebensfreude geben»

Von Bruno Bötschi

13.2.2021

Opernhaus Zürich: Die Corona-Pandemie verändert die Kultur. Nur wie? Und wie geht es danach weiter?
Opernhaus Zürich: Die Corona-Pandemie verändert die Kultur. Nur wie? Und wie geht es danach weiter?
Bild Keystone

Die Corona-Pandemie trifft die Kulturbranche brutal hart – sowohl wirtschaftlich als auch künstlerisch. Wenig wird bleiben, wie es war. Eine Umfrage in zwei Teilen unter Schweizer Kulturschaffenden.

Wie aus dem Nichts kam im Frühling 2020 die Welt zum Stillstand und damit auch das Leben in der Schweiz. Eine Pandemie, deren Ende noch immer nicht absehbar ist, bewirkt in fast allen Lebensbereichen dramatische Veränderungen, auch in der Kultur.

Ein Jahr der Absagen – unzählige Konzerte, Theateraufführungen, Kunstausstellungen, DJ-Sets und Festivals wurden in den vergangenen zwölf Monaten verschoben, nochmals verschoben, abgesagt.

Die Kultur wird vom Bundesrat nicht als «systemrelevant» eingestuft. Aber Kultur ist menschlich relevant. In dieser für viele Künstler*innen und Veranstalter bisher absolut unvorstellbaren Situation wollte die Redaktion von «blue News» wissen:

Was wird aus der Kultur nach der Corona-Pandemie: Kahlschlag oder Chance?

Von Regula Esposito alias Helga Schneider über Lo & Leduc bis Sybil Schreiber, Nadja Sieger alias Nadeschkin und Andreas Homoki bis zu Frank Baumann und Jonny Fischer vom Cabaret Divertimento – insgesamt 24 Frauen und Männer aus der helvetischen Kulturbranche erzählen, was sie in den vergangenen zwölf Monaten aus schönen und traurigen Erlebnissen gelernt haben und wie sie sich die Zukunft vorstellen.

Der zweite Teil der Umfrage erscheint morgen Sonntag, 14. Februar, auf «blue News».


«In meinen Adern fliesst Theaterblut»

Regula Esposito alias Helga Schneider, Komikerin

Bild: zVg

«Kunst findet überall und immer statt! Die darstellende Kunst wird herausgefordert und muss sich neue Nischen suchen. Da gibt es Chancen. Ich bin Komikerin und in meinen Adern fliesst Theaterblut. Ich vermisse die Bühne und leide darunter, nicht auftreten zu dürfen.

In meinem Alter ist man nicht mehr so flexibel, um seine Kunstform neu zu erfinden und alles auf ‹online im Netz› zu setzen. Für mich ist Comedy immer noch eine absolut physische Angelegenheit. Das hat mit Magie und einem einmaligen Live-Erlebnis zu tun. Das kann das Internet, YouTube oder Fernsehauftritte ohne Publikum nie ersetzen.»


«Zu Beginn eher mit leichter Kost»

Sybil Schreiber, Autorin und Kolumnistin

Bild: zVg

«An einem unserer letzten Auftritte im Hechtplatz-Theater kurz vor der Zwangskulturpause kam eine junge Frau zu uns und sagte: ‹Diesen Abend nehme ich mit für die kommende Zeit.› Das hat uns sehr berührt. Kultur kann Kraft schenken. Und genau das wird sie tun, wenn sie wieder frei gelassen wird.

Ich denke, dass es eine Weile lang vor allem kleine, feine, intime Events sein werden. Ehrlich gesagt genau die Form von Kultur, die ich selbst liebe. Die Fantasie wird zauberhafte Blüten ans Licht bringen. Kultur wird öfter an frischer Luft geboten werden, mit kürzeren Acts und wahrscheinlich zu Beginn eher mit leichter Kost.»


«Die Spannung in schöpferische Kraft verwandeln»

Lo & Leduc, Musiker

(c) MAXIMILIAN LEDERER Fotograf
Bild: Maximilian Lederer

«Auch innerhalb der Kulturbranche trifft die Pandemie diejenigen am stärksten, welche bereits zuvor benachteiligt waren. Der Schaden ist dabei mit Sicherheit nachhaltig und die Aussage ‹Niemand macht Kultur wegen des Geldes› klang selten so zynisch.

Rentabilitäts- und Wirtschaftshörigkeit treten wieder einmal deutlich zutage und es bleibt die Hoffnung, dass dadurch ein Antrieb für einen wirklichen Wandel entsteht. Sicher ist nur, dass die Kulturschaffenden den Druck und die Spannung dieser Zeit in schöpferische Kraft verwandeln –  und damit dem Erleben aller eine Stimme geben werden.»

Von Lo & Leduc erschien diese Woche der neue Song «Snooze».


«Da geht vielen der Schnauf aus»

Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann, Intendanten des Schauspielhauses Zürich

Bild: zVg

«Als wir unsere Bühnen schliessen mussten, haben wir angefangen, Filme zu drehen, Lieder zu komponieren, Online-Formate zu entwickeln, Bücher zu schreiben. Wir haben live gestreamt aus leeren oder kaum besetzten Theatern und Distanzkonzerte gegeben: über, mit, trotz, gegen Corona.

Um Kunst und Kreativität muss man sich keine Sorgen machen – die suchen sich ihre Wege. Angst haben muss man um ‹die Kultur› – die Art und Weise, wie all das finanziert, institutionalisiert, realisiert wird. Da geht vielen der Schnauf aus – und das ist dann keine Chance mehr, sondern einfach nur beängstigend.»


«Corona ist wie eine Fastenzeit»

Nadja Sieger alias Nadeschkin, Komikerin, Schauspielerin, Regisseurin und Autorin

Bild: Geri Born

«Corona ist für die Kultur wie eine Fastenzeit. Fasten entschlackt und klärt den Geist. Wer allerdings zu lange fastet, muss aufpassen, dass er dabei nicht stirbt.»


«Ausfallentschädigungsformularbeilagenzusammentragungsarbeiten»

Irene Brügger alias Frölein Da Capo, Musikerin

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Frölein da Capo


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Oktober 2020
Esther Michel
www.esthermichel.com
Bild: Esther Michel

«Ich sehe es als Herausforderung. Und ich fühle mich ihr gewachsen, habe ich doch in der Pandemie ganz viel Neues gelernt: Geduld, Umgang mit Frustration, Flexibilität, Durchhaltevermögen, Gelassenheit, Umdenkerei – und das Wort Ausfallentschädigungsformularbeilagenzusammentragungsarbeiten.»


«Ich prognostiziere eine blühende Zukunft»

Florian Scholz, Intendant, Konzert Theater Bern

Bild: zVg

«Die darstellende Kunst ist so alt wie die Menschheit, wahrscheinlich noch älter. Auch wenn es jetzt momentan für viele sehr, sehr schwer ist, wird sie auch diese Krise überstehen, und ich prognostiziere ihr eine blühende Zukunft.»


«Veranstaltern unkompliziert Bewilligungen erteilen»

Christian Jungen, Direktor Zurich Film Festival

Bild: Geri Born

«Ich glaube, dass es in der zweiten Jahreshälfte eine Explosion der Lebensfreude geben wird und wir den Wechsel von der Trainerhose zum Smoking vollziehen werden. Die Menschen werden wieder in Scharen ins Kino, ins Theater und in Konzerte strömen. Der Nachholbedarf ist riesig, weil wir alle ja in den letzten zwölf Monaten gemerkt haben, wie sehr uns Gemeinschaftserlebnisse fehlen.

Von der Politik wünsche ich mir, dass sie die Kultur unterstützt und etwa Veranstaltern, die nun wirklich schwierige Zeiten hinter sich haben, unkompliziert Bewilligungen erteilen.»


«Mehr Kleines und Feines – ein Zukunftsmodell?»

Gabriela Krapf, Musikerin

Gabriela Krapf, Camogli
Bild: Basil Stücheli

«Mir kommt in letzter Zeit oft das Bild vom selbst gebauten Staudamm im Waldbach in den Sinn. Egal, wie viele Steine aufeinandergeschichtet werden, das Wasser bahnt sich stets von Neuem einen Weg. So fühlt sich für mich die aktuelle Krisenbewältigung an.

Zum Beispiel übe ich zurzeit vermehrt Schlagzeug und habe meine kommende Single ‹Alles wo übrigbliibt› komplett zu Hause produziert. Zudem durfte in meiner Welt der kleineren und deshalb flexibleren Kulturclubs zeitweilig mit Schutzkonzept veranstaltet werden. Weniger rammelvolle Grossanlässe, mehr Kleines und Feines – ein Zukunftsmodell?»


«Für die Betroffenen aber ist und bleibt sie ein Scheiss»

Frank Baumann, Direktor des Arosa Humorfestivals

Frank Baumann, Festivalleiter, posiert vor dem Zelt zum Auftakt des 22. Humorfestivals auf dem Tschuggen in Arosa, am Donnerstag, 5. Dezember 2013. (KEYSTONE/Arno Balzarini)
Bild: Keystone/Arno Balzarini

«‹Jede Scheiss isch e Chance› singt Manuel Stahlberger, der grossartige ehemalige ‹Deville›-Sidekick. Im letzten Dezember wäre er auf der Blatter-Bühne am Arosa Humorfestival aufgetreten. Wäre. Der wichtigste Schweizer Humoranlass musste digital online durchgeführt werden.

Für die Kulturschaffenden (und all jene, die in einem der grössten und gesellschaftlich wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes beschäftigt sind) ist die Corona-Pandemie der Gau und die finanziellen Auswirkungen eine Katastrophe. Hinzu kommt, dass die entgangenen Auftritte nicht etwa einfach nachgeholt werden können, da die Planung der Veranstalter ja der Zeit voraus ist und die Startplätze für dieses Jahr bereits weg sind.

In Arosa besetzen wir bereits das Festival 2023. So oder so wird sich die Humorkultur neu erfinden. Müssen. Es werden neue Stimmen, neue Stilrichtungen, neue Konzepte und Umsetzungen entstehen. So gesehen ist die Pandemie eine Chance. Für die Betroffenen aber ist und bleibt sie ein Scheiss.»


«Endlich wieder im kreativen Leben ankommen»

Steven Schneider, Autor und Kolumnist

Bild: zVg

«Mir kommt ein Artikel über eine Flüchtlingsfamilie in den Sinn: Sie erreichte nach einem langen, beschwerlichen Marsch durch die Wüste endlich ein Camp. Alle hatten Durst, alle waren hungrig. Sie bekamen Wasser und Essen. Doch statt alles panisch zu verschlingen, assen sie ganz langsam, brachen kleine Stücke vom Brot ab, tranken nur Schluck für Schluck. Bedächtig. Erleichtert.

Vielleicht werden wir, wenn wir aus der Corona-Wüste endlich wieder im kreativen, inspirierenden, bunten Leben ankommen, auch eher kleine Portionen geniessen. Aber grossen Appetit haben wir alle.»


«Die Kulturpolitik muss sich mit der Verteilgerechtigkeit befassen»

Philippe Bischof, Direktor Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia

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Bild: Anita Affentranger

«Der Kultursektor befindet sich in einem Strukturwandel. Neue Kompetenzen sind notwendig, um das Analoge und das Digitale zu verbinden: Sowohl bei der Produktion und Verbreitung von Kunst wie auch bei der Publikumsgewinnung.

Eine grosse Gefahr ist, dass zahlreiche Kreative in ihrer Existenz bedroht sind und die finanziellen Unterschiede zwischen subventionierten und freischaffenden Kunstformen und -institutionen weiter zunehmen. Die Kulturpolitik muss deshalb nicht nur den Strukturwandel begleiten, sondern sich auch mit Fragen der sozialen Sicherheit und Verteilgerechtigkeit befassen.»

Der zweite Teil der Umfrage erscheint am Sonntag, 14. Februar, auf «blue News», unter anderem mit Statements von Schlangenfrau Nina Burri und Andreas Homoki, Intendant des Opernhauses Zürich.

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