SchicksalDas Jahr ohne Worte – eine schrecklich wahre Liebesgeschichte
Von Syd Atlas
21.10.2020
Zwei Menschen verlieben sich, werden kurz darauf Eltern. Aber dann passiert etwas, was beinahe ihr Leben zerstört. Das ist die schrecklich wahre Liebesgeschichte von Syd Atlas.
«Sowohl als auch» heisst das Café in Berlin, in dem Syd Atlas Theo kennenlernt. Theo ist Filmemacher, alleinstehend, charismatisch. Syd weiss sofort, dass es die Art von Liebe ist, die sie vermutlich nur einmal erleben wird.
Die beiden bekommen ein Kind, ziehen zusammen, erleben grosses Glück und überstehen kleine Krisen. Doch dann erhält Theo eine niederschmetternde Diagnose: ALS. Die Krankheit, an der auch Wissenschaftler Stephen Hawking litt.
Von dem Mann, in den Syd sich einst verliebt hat, ist Tag für Tag weniger übrig. Und doch kämpft sie um ihn. Sie will das, was von ihrem Glück noch übrig ist, unbedingt bewahren. Bis sie eines Tages eine Entdeckung macht, die ihr den Boden unter den Füssen wegzieht. In ihrem Buch «Das Jahr ohne Liebe» beschreibt Atlas, wie sich der Alltag ihrer Familie nach der Diagnose veränderte.
«blue News» publiziert exklusiv die ersten Kapitel daraus. Es handelt sich hier um einen originalen Textauszug.
Vorsaison
Wenn man im Handy seines Partners herumschnüffelt, wird man aller Wahrscheinlichkeit nach auch etwas finden. Oder wie Dan Savage, der Autor von Savage Love, einer weitverbreiteten Beziehungs- und Sex-Kolumne, schreibt: «Schnüffeln ist natürlich immer falsch, es sei denn, der Schnüffler entdeckt etwas, was er wissen darf.»
Zur Autorin: Syd Atlas
Privatfoto
Syd Atlas wurde in Brooklyn, New York, geboren. Sie studierte Theaterwissenschaften an der Brown University und begann wenig später, als Schauspielerin zu arbeiten und Soloprogramme zu schreiben. Mitte der 1990er-Jahre zog sie nach Berlin. Seit mehr als zehn Jahren coacht Atlas als Rhetorik- und Kommunikationstrainerin Manager. Nebenbei moderiert sie Diskussionsrunden auf der Frankfurter Buchmesse sowie das Books-at-Berlinale-Event der Internationalen Filmfestspiele. Syd Atlas lebt und arbeitet in Berlin. «Das Jahr ohne Liebe» ist ihr erstes Buch.
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Er bat mich in sein Zimmer, um zu reden, nicht um auch zu reden, sondern um zu reden. Präpositionen vor Verben bedeuten immer: Es wird ernst. Wir halten beide unsere iPhones in der Hand. So sprechen wir miteinander, seit er vor achtzehn Monaten seine Sprache verloren hat. Er weiss noch nicht, was ich weiss, was ich entdeckt habe, aber er weiss, dass etwas nicht stimmt. Als Erstes hat ALS, die Amyotrophe Lateral-Sklerose, ihm seine Stimme genommen. Er klang zunächst, als wäre er beim Zahnarzt gewesen, dann betrunken, schliesslich grunzte er nur noch, und die Kinder und ich waren die Einzigen, die ihn noch verstehen konnten. Nach seinem Luftröhrenschnitt drang gar kein Laut mehr aus seinem Mund. Ein Jahr, nachdem er die Diagnose erhalten hatte, konnte er kein Wort mehr über die Lippen bringen. Die Krankheit befiel seinen Körper nicht mit dem üblichen Kribbeln und den Zuckungen in den Gliedmassen. Sie attackierte als Erstes seine Zunge, seine Fähigkeit zu sprechen, seine Fähigkeit, selbstständig zu atmen. Was er sagte und wie er es sagte, war so sehr ein Teil von Theo wie ein Plié bei einer Ballerina. Er wollte leben und sein gewohntes Leben so lange wie möglich weiterführen. Für mich hingegen sollte er ein Held sein und uns alle retten, und genau da fingen die Probleme an. Wie ich es vermisse, seine Stimme zu hören, tief, mit einem Unterton wie Steve McQueen in Lederjacke. Wie ich die Gespräche mit ihm vermisse, normale Unterhaltungen. Es fehlt mir, wie es zwischen uns war. Aber man gewöhnt sich an alles. Die Stimme, die mich bittet, hereinzukommen und Platz zu nehmen, ist die Stimme einer Britin, die er sich auf sein Handy heruntergeladen hat. Die Kinder und ich haben ihn nie gefragt, warum er die Stimme einer Frau wollte, genauso wie keiner fragt, weshalb Siri weiblich ist. Sein Bett ist hochgekurbelt und geneigt, das Kopfteil hochgestellt, die Matratze unter seinen Knien kräuselt sich – ein seltsamer König in einer seltsamen Welt. Wenn ich stehe, blicke ich auf ihn hinunter, wenn ich sitze, muss ich den Kopf heben. Ich sitze. Wir lächeln. Er schreibt mir langsam. Ich warte.
«Du wirkst angespannt», erscheint auf meinem Handy. Wir sind nur Zentimeter voneinander entfernt. Es ist, als würden wir in Zeitlupe Fangen spielen. Was ich an jenem Tag entdeckte, war, als würde man im Garten einen wunderschönen Stein aufheben und feststellen, dass sich darunter Würmer ringeln. Wenn man nach Beispielen sucht, wie das Wort «entdecken» verwendet wird, findet man eine Menge: Wir sind entdeckt worden. Ich habe die Wahrheit entdeckt. 1492 hat Kolumbus Amerika entdeckt. Tom und Mary haben etwas Erstaunliches entdeckt. Tom hat zwei Leichen in seinem Keller entdeckt. (Oh nein.) Tom war traurig, als er entdeckte, dass Mary nur auf sein Geld aus war, und Mary war traurig, als sie entdeckte, dass Tom arm war. (Oje.) Die Regierung hat unser Geheimnis entdeckt. Ich könnte so etwas den ganzen Tag machen, und das tue ich auch, wenn ich eigentlich erwachsene Angelegenheiten wie meine Steuererklärung erledigen muss. Was ich Ihnen jetzt erzähle, ist eine wahre Liebesgeschichte. Ich dachte, ich hätte alles im Leben:
Nach neun Jahren war ich noch immer in meinen Ehemann verliebt, wir hatten regelmässigen Sex, nicht die Einmal-die-Woche-Routine, sondern leidenschaftlichen, zwei Kinder, Arbeit, die uns beiden gefiel. Dann wurde er krank und lag auf einmal im Sterben. Gerade als ich glaubte, mir würde der Boden unter den Füssen weggezogen, entdeckte ich, dass sich darunter ein tieferes und noch viel dunkleres Loch verbarg. Ich wollte herausfinden, was passiert, wenn ich in dieses Loch hinabstieg. Wie tief kann ich in der Erde bohren, um herauszufinden, was mit uns geschehen ist? Dafür brauchte ich Zeit. Wenn die Liebe normalerweise vier Jahreszeiten hat, benötigte ich für diese Geschichte eine fünfte, sozusagen eine Extra-Runde. Da dies eine Liebesgeschichte ist, sollten wir mit dem Anfang beginnen, als es noch Liebe gab, echte Liebe. Da bin ich mir ganz sicher.
Frühling
To Fall in Love. Wenn du dich verliebst, lässt du dich fallen. Du erhebst dich nicht zur Liebe oder steigst hinauf, du fällst. Und vergisst. Deshalb ist es jedes Mal überraschend, dass Liebe schmerzt. Aber dieses Gefühl, zu fallen, ist gleichzeitig so verdammt grossartig. Wenn mein zukünftiges Selbst mir einen Rat hätte geben können, hätte es zu mir gesagt, ja, mach es, do it again, und wäre mein zukünftiges Selbst eine Französin gewesen, hätte es gemeint, non, je ne regrette rien.
1. Kapitel: Why not?
Ich lerne ihn an einem Apriltag kennen. Es ist endlich Frühling, und man kann es in der Luft riechen. Aus der wunderbaren französischen Bäckerei lockt mich der Duft von frischen Croissants. Ein junger Mann mit Tattoos und Piercings spaziert mit einem Pudel und Zigarette rauchend an mir vorbei.
[…]
Also, dies sind nun die Tage, nachdem ich offiziell meine Beziehung zu Henrys Vater beendet habe, und ich bin glücklich, als ich ein Café namens SowohlAlsAuch betrete. Weil es keine freien Plätze mehr gibt, setze ich mich an einen Tisch zwischen zwei Männer, die Zeitung lesen. Sobald ich mich hingesetzt habe, blickt mich einer der beiden über seine Brille hinweg an. Er wirkt wie ein Intellektueller, einer, der sich in Künstlerkreisen bewegt, wie jemand, den man heutzutage einen coolen Nerd nennen würde. Seine dicken Augenbrauen sind ständig in Bewegung. Unsere Blicke treffen sich, und ich will ihn fragen, ob ich einen Teil seiner Zeitung lesen darf. Ich benutze ein falsches deutsches Wort und sage: «Kannst du mir bitte ein Stück Zeitung rausreissen?»
Das tut er. Wir unterhalten uns. Er erzählt mir, dass er Theo heisst und Filmregisseur ist. Die Intensität, mit der er mich mustert und dabei langsam blinzelt, macht mich verlegen, gleichzeitig fühle ich mich, als wäre ich etwas Besonderes. Ich muss erwähnt haben, dass ich ein Kind habe, denn Theo fragt beiläufig: «Und was ist mit deinem Mann?» Genauso beiläufig antworte ich: «Wir haben uns vor Kurzem getrennt.» Jetzt flirten wir offiziell. Ohne zu zögern, erklärt er mir, dass er auch gerade eine schlimme Beziehung hinter sich hat. «Sie war verrückt.» Lachend fährt er fort: «An einem Tag wollte sie mit mir nach Hollywood ziehen, und am nächsten Tag trennt sie sich von mir. Frauen.» Wir lächeln beide. «Sie hat vier Kinder von drei verschiedenen Männern. Es war die beste aller Zeiten, es war die schlechteste aller Zeiten», sagt er. Bevor ein unangenehmes Schweigen entsteht, weil wir zu schnell zu viel von uns preisgegeben haben, kommt der Kellner mit unserem Kaffee. Wir tauschen unsere Telefonnummern aus. Als wir das SowohlAlsAuch verlassen, gibt es einen chaotisch verstolperten Abschied. Ich verpasse ihm beinahe einen Kinnhaken, als ich seine Hand schütteln will, weil er sich im selben Moment vorbeugt, um mich zu umarmen. Als ich am Nachmittag nach Hause radle, summt es in meiner Tasche. Theo hat mir eine SMS geschrieben. «Sehen wir uns morgen? Gleiche Zeit, gleicher Ort?» «Why not?», antworte ich.
Wir treffen uns am nächsten Tag. Meinen Vorsatz, es nach der Heilfastenkur mit dem Essen langsam angehen zu lassen, schicke ich zum Teufel: Wir bestellen Käsekuchen und klebrige Zimtschnecken, mein Mund ist ein einziges Geschmacks-Kaleidoskop. Während sich Theo ein brüllend komisches Gespräch zwischen einem Österreicher, einem Schweizer und einem Bayern ausdenkt, damit ich die Unterschiede heraushören kann, stellt der Kellner die nächste Runde Kaffee auf den Tisch. Als ich ihn nach seinem Lieblingsfilm frage, verfällt Theo in den De-Niro-Monolog aus Taxi Driver: «10. Mai. Endlich hat es geregnet …» «Ich habe am 10. Mai Geburtstag», unterbreche ich ihn.
«Nicht im Ernst?», sagt er. Wir sehen uns an und begreifen, dass wir Erwählte sind, dass wir das Glück haben, die Art von Liebe zu erleben, die man sonst nur aus Büchern oder Filmen kennt. Feuerwerkskörper explodieren, und Katy Perry singt nur für uns, De Niro fragt, worauf warten wir? Das Universum ist auf unserer Seite. Und ehe wir es bemerkt haben, ist es schon Abend. «Lass uns weiterziehen, ja?», schlägt Theo mit hochgezogenen Augenbrauen vor. Ich sage, klar, obwohl mir der Gedanke an meinen Ex, der meinen Sohn ins Bett bringt, durch den Kopf schiesst. Wir wollen in die Weinerei, eine coole Bar, wo man so viel trinkt, wie man möchte, und am Ende die Summe, die einem angemessen erscheint, in einen Keramikkrug wirft (das hier ist Berlin, und da klappt so was). Es ist zu weit, um zu der Bar zu laufen, und so sagt Theo: «Wir nehmen meine Vespa.» Er ist ein Mann, er hat Humor, er ist gutaussehend, und er hat eine verdammte Vespa – in La Dolce Vita fahren sie doch auch immer Vespa, oder? Das ist jetzt mein Dolce Vita, genauso fühlt es sich an. Theo hat einen zweiten Vintage-Helm für mich mit einem Stern darauf, natürlich hat er den. Er mustert mich, streicht mein Haar zur Seite, während er den Riemen schliesst, und schenkt mir ein anerkennendes Lächeln: «Wunderschön», sagt er, und jeder Gedanke an meinen Ex ist verflogen wie Feenstaub. Es ist schon lange her, seit ich so etwas gemacht habe. Habe ich überhaupt schon mal so etwas gemacht? Theo lässt den Motor an, ich springe auf und lege von hinten die Arme um ihn, schmiege mich an seinen kräftigen Schwimmerrücken, während wir uns mutig durch den Berliner Verkehr schlängeln. Ich fühle mich lebendig wie nie. Ich bin genau da, wo ich sein muss. Die Bar ist gerammelt voll, aber wir finden eine Nische. Ich sitze auf einem alten Sessel, Theo kommt mit zwei verschiedenen Rotweingläsern und nimmt auf einer umgedrehten Weinkiste Platz. Wir prosten uns zu. «Auf uns», sagt er. Gibt es schon ein Uns? Unsere Gläser klirren. Ich weiss nicht mehr, worüber wir geredet haben, ich weiss nur noch, dass ich mich gefragt habe, ob wir uns wohl küssen werden. Werden wir uns drinnen oder draussen küssen? Wie wird es sich anfühlen, einen anderen Mann zu küssen, nachdem ich zehn Jahre lang nur meinen Exmann geküsst habe? Als sich der Abend dem Ende zuneigt und wir die Weinerei verlassen, greift Theo in seine Jeanstasche und füttert den Krug. Dabei zaubert er ein Durcheinander von Pesos, britischen Pfund, Mentos, Taxiquittungen und eine zerknüllte Snickersverpackung hervor wie ein Close-up-Magier. Und als wäre es das Normalste von der Welt, wenden wir uns vor dem Eingang der Bar einander zu. Es hat angefangen, leicht zu nieseln. Wir küssen uns. Zuerst sind es vorsichtige Erkundungsküsse, zwei Zungen, die sich im Dunkel unserer Münder treffen. Ich kann den Rotwein in seinem Atem schmecken, oder schmecke ich den Rotwein in meinem Atem? Die Grenzen zwischen uns scheinen zu verschwimmen, und ich kann nicht sagen, ob wir uns fünf Minuten oder fünf Stunden lang küssen. Inzwischen regnet es heftiger. Theo nimmt mein Gesicht in seine Hände und verteilt darauf Küsse, jeder Kuss ein Gruss – hallo Augen, wir werden gute Freunde sein, hallo Nase, hallo Wangen. Seine Zunge kitzelt meine Ohren und sorgt für Empfindungen, wie ich sie noch nie gefühlt habe. Lieber Gott, ich stehe auf der Strasse im Regen und küsse diesen wunderbaren Mann. Ich will diesen Augenblick nie vergessen. Niemals.
Aus diesem Augenblick werden viele Augenblicke – das erste Mal, als Theo meinen Sohn Henry sieht: Er besucht mich abends, wenn Henry schläft, weil ich möchte, dass sie sich erst kennenlernen, wenn ich mir sicher bin. Auf dem Weg zur Toilette erwische ich Theo, wie er in der Tür zu Henrys Zimmer lehnt und ihn beim Schlafen beobachtet, Henry mit offenem Mund, seine Brust hebt und senkt sich. Theo schliesst mich von hinten in die Arme, und wir stehen schweigend im Dunkeln und lauschen den Träumen eines Dreijährigen. Ab da beginne ich Henry vorsichtig von meinem neuen Freund Theo zu erzählen. Henry sitzt auf meinem Schoss und sieht mich an. Er hat viele Fragen: «Ist er stark?» «Ja.» «Spricht er Englisch?» «Ja.» «Was ist sein Lieblingseis?» «Pistazie.» «Und er fährt eine Vespa», erzähle ich ihm aufgeregt, während ich mit den Fingern durch sein langes, dickes, blondes Haar streiche; sein Hinterkopf ist verschwitzt. Henry fängt haltlos an zu kichern, weil er glaubt, dass ich das deutsche Wort Wespe meine.
«Es ist wie ein kleines Motorrad.» «Cool. Ich möchte auch mal mitfahren.» «Vielleicht», sage ich. Henry sucht sich seine Anziehsachen selbst aus. Oft gehört auch eine Kopfbedeckung dazu. An diesem Tag ist es ein Drei-Musketiere-Hut. An dessen Krempe steckt eine Feder, die mich an der Nase kitzelt. Dazu trägt Henry Shorts und knallrote Strümpfe, die er sich bis übers Knie hochgezogen hat. Auf einmal legt er seine Hand auf meinen Brustkorb, an die Stelle, wo er mein Herz fühlen kann. Er nennt das «die Berührung». Es ist wie ein Ladegerät. An dem Tag, an dem sie sich kennenlernen, spielt die deutsche Fussball-Nationalmannschaft ein wichtiges Europameisterschaftsspiel. Wir wollen es uns draussen in einem Café ansehen. Ich hebe Henry aus seinem Fahrradsitz und drehe mich um, als Theo auf uns zukommt. «Das ist Theo», sage ich, zeige auf ihn, und Henry flitzt los. Theo hebt ihn hoch, so mühelos, wie ich es nie könnte, und mein Herz schmilzt. Sie umarmen sich wie alte Freunde, und Deutschland gewinnt sogar das Spiel. Das erste Mal kocht Theo an einem Samstag für mich.
Henry ist an diesem Tag bei seinem Vater. Das geteilte Sorgerecht verschafft mir eine Menge freier Wochenenden. Theo trägt eine Schürze, als er die Tür öffnet: Quiche, Weisswein, Salat stehen auf dem Tisch, während er zu Maria Callas im Hintergrund singt. «Warte, bis du deiner Mutter erzählst, dass dein Freund Opern hört.» Meine Eltern mochten meinen ersten Mann und reagierten wie meine Freunde perplex und verständnislos auf meine Entscheidung, mich von ihm zu trennen. Aber meine Mutter ist weniger verstört darüber, dass ich meinen Mann verlassen habe, als vielmehr darüber, dass ich nun allein bin. Vielleicht ist es eine Generationssache, aber absichtlich Single sein zu wollen, ist, direkt nach Welpen quälen, eines der schlimmsten Dinge, die man im Leben tun kann, ginge es nach meiner Mutter. Doch sobald ich ihr erzähle, dass ich in einem Café einen kreativen Typen kennengelernt habe, überschlägt sich ihre Stimme regelrecht: «Ich will alles wissen!» Und das will sie wirklich. «Ich frag dich mal was», beginnt sie. «Frag einfach, Mom.» «Was macht er nun eigentlich? Ich hab’s noch nicht verstanden.»
«Er hat seine eigene Filmproduktion. Er ist Regisseur und Produzent.» «Das hört sich ja grossartig an. Du bist selbst sehr kreativ, du brauchst jemanden, der anspruchsvoll ist wie du. Ich frag dich noch was …» «Mom, frag einfach, du musst nicht jedes Mal fragen, ob du fragen darfst.» «Was?» «Was willst du wissen?» «Hat er Kinder?» «Nein, hat er nicht.» «Das ist schon in Ordnung, Daddy und ich haben auch erst spät geheiratet … Weisst du, ich habe fünfzehn Jahre in der Werbung gearbeitet, und ich weiss absolut, was du meinst. Kreative Typen sind attraktiv.» Nach der ersten Begegnung mit seinen Freunden erzählt Theo mir, dass alle begeistert waren: Marc, der DJ, und seine Freundin, die sich ein Kind wünschen; auch das Künstlerpaar aus Argentinien – sie ist froh, dass Theo nicht mehr mit seiner verrückten Ex zusammen ist, und bewundert meine grünen Sandalen – und Fabian, der aus einer guten Familie mit altem Geld stammt und uns seinen Wagen für unseren ersten Wochenendausflug leiht.
Eines Tages dann unsere erste Reise zu zweit nach Mallorca. Das erste Mal mit ihm zusammen in ein Flugzeug steigen und an einem neuen Ort als Paar ankommen. Es ist Nachsaison, die Insel ist leer, und Gäste wie Einheimische sind entspannt. Wir spazieren zu einer Bar voller Fischer und Zimmermädchen aus den umliegenden Hotels. «Dos Gin Tonic, por favor», bestellt Theo. Der Barkeeper giesst Gin ein, während er mit den Gästen redet, und dann werden zwei grosse Gläser Gin mit Eis auf den Tresen gestellt und daneben eine Flasche Tonic. Aha, so wird das also hier gemacht. Wir trinken, und Theo unterhält sich mit den Mallorquinern, zu meiner Überraschung in perfektem Spanisch. Er übersetzt für mich, und nach dem zweiten Gin Tonic lädt uns einer der Männer ein, im Hotel seines Cousins zu wohnen. Als wir die Bar verlassen, umarmen wir alle und glauben, dass wir sie nächstes Jahr wiedersehen. Zurück in Berlin. Das erste Mal, dass wir von einer Reise zurückkehren und einander im Arm halten und uns nicht verabschieden wollen. Die ersten Automatenfotos, die wir zusammen aufnehmen, eine Schwarz-Weiss-Serie im Fotoautomaten am Alexanderplatz. Ich sitze auf seinem Schoss auf dem kleinen, runden Hocker und blicke in die Kamera und dann – Blitz-Blitz-Blitz-Blitz. Wir küssen uns, seine Hände erkunden fiebrig meinen Körper, ich wende mich ihm zu, noch mehr Küsse. Syd aus Brooklyn ist weit gekommen. I am falling in love. Sich zu verlieben, ist, als würde man Zirkusartisten dabei zusehen, wie sie durch die Luft wirbeln, sich drehen und rollen, immer mit dem Risiko, in den Tod zu stürzen, aber mühelos die Schwerkraft überwinden wie eine Zeitfalte. Genau so habe ich mich gefühlt. Hätte ich wissen müssen, dass Küsse im Regen nicht romantisch sind, sondern kalt und nass? Wie hätte ich das wissen sollen?
Bibliografie:Das Jahr ohne Worte, Syd Atlas, Rowohlt Verlag Hamburg, 256 Seiten, ca. 31 Fr.