TrauerrednerCarl Achleitner: «Die Töchter bezeichneten ihre Mutter als ‹Teufel›»
Von Bruno Bötschi
26.11.2020
Carl Achleitner ist Schauspieler und Trauerredner. Er hat mehr als 2500 Menschen auf ihrem letzten Weg begleitet. Ein Gespräch über das Geheimnis eines guten Lebens, den Tod und die letzten Worte bei seiner eigenen Abdankung.
Nein. Interessanterweise nicht einmal bei meinem Autounfall, einem Frontalcrash, vor 15 Jahren.
Menschen, die einen schweren Unfall erlitten haben, erzählen hin und wieder, Sie hätten dem Tod in die Augen geschaut – Sie demnach nicht?
Ich kenne solche Erzählungen von Menschen, die eine Nahtoderfahrung gemacht haben, also zum Beispiel schwer verletzt und bewusstlos waren. Das war bei meinem Unfall nicht so. Ich war zwar verletzt, aber durchgehend bei Bewusstsein. Im ersten Moment nach dem Crash, als ich merkte, ich lebe, habe ich nicht dem Tod, sondern meinem 1979 verstorbenen Grossvater in die Augen geschaut. Sein Bild war das erste, das vor meinem geistigen Auge erschien.
Ihr Grossvater war ein sehr wichtiger Mensch in Ihrem Leben. Er hat sich Ihren Vater vorgeknöpft, der Sie als Kind oft windelweich geschlagen hat.
Ja, er war der Held meiner Kindheit, der einzige Mensch, der mir damals Schutz gegeben hat. Dass er mir 36 Jahre nach seinem Tod in einem Moment höchster Schutzbedürftigkeit in den Sinn kam, ist kein Zufall. Seine Liebe hat Spuren in mir hinterlassen.
In Ihrem Buch ‹Das Geheimnis eines guten Lebens› erzählen Sie von Ihren Erlebnissen und Erkenntnissen als Trauerredner. Was haben Sie dabei gelernt, wie ein Leben zu einem guten wird?
In einer alten Legende der amerikanischen Ureinwohner*innen heisst es, dass in jedem Menschen zwei Wölfe existieren, die ein Leben lang miteinander kämpfen. Die Waffen des bösen Wolfs heissen Gewalt, Hass, Gier, Neid, Engstirnigkeit und Lüge. Die Waffen des guten Wolfs heissen Liebe, Empathie, Sanftmut, Grosszügigkeit, Humor und Wahrhaftigkeit. Siegen wird am Ende unseres Lebens jener Wolf, den wir füttern. Wenn der gute Wolf in uns dick und fett und wohlgenährt ist, haben wir mit hoher Wahrscheinlichkeit ein gutes Leben gehabt.
Sie haben mehr als 2500 Menschen auf ihrem letzten Weg begleitet und verabschiedet. Ich nehme an, darunter gab es auch einige, die den bösen Wolf gefüttert haben.
Natürlich. Es sterben nicht nur die guten Menschen. Kürzlich sassen mir zwei Damen Mitte 60 gegenüber, die ihre hochbetagt verstorbene Mutter als ‹richtigen Teufel› und ‹durch und durch bösen Menschen› bezeichnet haben. In solchen Fällen sind die Vorgespräche oft deutlich wichtiger als die Rede.
Sie scheinen ein Mann der klaren Worte zu sein. In einer Trauerrede sagten Sie einmal: ‹Wer ohne Sünde ist, also wer noch nie ein Arschloch war, wer noch nie Scheisse gebaut hat, wer noch nie versagt hat, der soll den ersten Stein werfen.›
Und wir wissen, wie die Geschichte ausgeht: Niemand wirft einen Stein, weil wir alle unsere Schwächen und Schattenseiten haben. In diesem Fall war der Verstorbene eine ambivalente Persönlichkeit und die Wortwahl passte zum Milieu. Mir sind Heuchelei und Verlogenheit in Trauerreden zuwider.
Ich stelle mir das schwierig vor, einen bösen Menschen auf seinem letzten Weg zu begleiten. Wie schaffen Sie es, immer die richtigen Worte zu finden?
Wie gesagt, die Vorgespräche sind oft wichtiger als die Rede, da wird im geschützten Rahmen oft Tacheles geredet und Dampf abgelassen. Man schimpft niemandem ins Grab nach. Aber wenn es über einen Menschen rein gar nichts Positives zu sagen gibt, dann ist es eben so.
Haben Sie auch schon einmal nicht die richtigen Worte gefunden?
Ich hatte in all den Jahren eine einzige Beschwerde – da hat von Beginn an die Chemie nicht gestimmt.
Woran hat's gelegen?
Ich hätte den Auftrag nicht annehmen sollen.
Bekommen Sie oft Reaktionen nach Trauereden?
Ja, eigentlich immer. Die Menschen haben nach dem Begräbnis meist ein Bedürfnis zu sagen, wie es war. Und wenn es tröstlich für sie war, bringen sie das in Form von Dankbarkeit zum Ausdruck, verbal, schriftlich per E-Mail oder auch als Eintrag im Gästebuch meiner Internetseite. Das ist natürlich sehr motivierend.
In meinem Beruf als Schauspieler gibt es regelmässig Durststrecken, ich war auf der Suche nach etwas mehr Stabilität. Eines Tages kam meine Frau mit der Idee nach Hause, dass ich mich bei der Trauerredner-Agentur Stockmeier in Wien vorstellen könnte. Ich habe das total abgelehnt und gesagt, dass ich doch nicht jeden Tag zum Friedhof gehe. Aus heutiger Sicht war es schlicht die Angst, mit der Thematik ‹Tod› konfrontiert zu werden. Ich habe mich dann doch dort gemeldet, wurde eingeladen, und wir hatten ein sehr gutes Gespräch. Ich war fasziniert. Bis heute empfinde ich es als eine sehr ehrenwerte Aufgabe, letzte Worte für jemanden sprechen zu dürfen. Es ist eine grosse Verantwortung. Und es ist das echte Leben, echter Schmerz.
Ist die Arbeit eines Trauerredners mit jener eines Bühnenschauspielers vergleichbar?
In beiden Fällen ist Empathie wichtig. Sich in andere Menschen einfühlen zu können. Aber als Trauerredner spiele ich nichts vor. Da stehe ich als ganz normaler Mensch und versuche, die Trauernden gut durch das Ritual des Abschieds zu begleiten. Als Schauspieler bin ich ja im Fernsehen oder auf der Bühne immer in fiktiven Geschichten unterwegs, aber damit kann ich die Menschen nicht annähernd so berühren, wie ich es als Trauerredner kann. Im Idealfall kann ich sie etwas trösten.
Ihre ersten Worte bei einer Trauerrede sind …
Ich beginne eigentlich immer mit einem der Situation angemessenen Zitat. Wenn dem Tod ein Leidensweg in Form einer längeren Krankheit voranging, passt ein Franz Kafka zugeschriebenes Wort: ‹Man sieht die Sonne langsam untergehen, und erschrickt doch, wenn es plötzlich dunkel wird.› Das zielt auf die Tatsache ab, dass man sich auf den Tod eines geliebten Menschen nicht wirklich vorbereiten kann. Selbst wenn es absehbar war – wenn es dann Wirklichkeit geworden ist, bleibt trotzdem die Welt kurz stehen. Wenn der Tod überraschend passiert ist, beginne ich mit Goethe: ‹Der Tod ist gewissermassen eine Unmöglichkeit, die plötzlich zur Wirklichkeit wird.› Das nenne ich mir Dichtung – in einem Satz hat der grosse Meister das Mysterium auf den Punkt gebracht.
Was muss eine gute Rede unbedingt beinhalten?
Die Spuren, die die verstorbene Person in den Lebenswegen seiner Liebsten hinterlässt, sowie Trost, Perspektive, Mut zum Weiterleben.
Erzählen die Angehörigen gern über das Leben des Verstorbenen oder müssen Sie hin und wieder Umwege gehen, um genug zu erfahren, damit es für eine Rede reicht?
Das ist ganz unterschiedlich. Manche schicken mir sieben eng beschriebene Seiten, andere verstummen. Ich bedränge die Menschen nicht, mir möglichst viel zu erzählen. Manche wollen das nicht, das ist zu respektieren. Wenn ich, wie kürzlich, auf die Frage: ‹War sie eine gute Mutter für Sie?› zur Antwort bekomme: ‹Die beste, die ich mir wünschen konnte!›, dann reicht das vollkommen aus, um einen würdigen Abschied zu gestalten.
Wie lange sollte eine Trauerrede dauern?
Ein hier in Österreich recht prominenter Politiker, der Anton Benya, meinte einmal: ‹Man kann über alles reden, nur nicht über 20 Minuten.› Daran orientiere ich mich. Mit zwei bis drei Liedern dauert eine Trauerfeier zirka 30 Minuten.
In einem Interview mit einem Trauerredner habe ich gelesen, dass er während des ersten Liedes die Leute dazu auffordert, sich währenddessen an einen Moment zu erinnern, der ihnen gerade einfällt. Und dass sie gern die Augen schliessen können. Machen Sie solches auch?
Musik ist mächtiger als das gesprochene Wort, erst recht in einer emotionalen Ausnahmesituation. Sie spricht unsere Gefühle direkt an. Deshalb lade ich die Menschen – sofern ein Lied in der Mitte der Feier gespielt wird – ein, beim Zuhören den Abschied zu vollziehen und noch einmal an die schönsten, beglückendsten, vielleicht auch fröhlichsten Momente zu denken, die sie mit dem verstorbenen Menschen erleben durften, diese Bilder anzuschauen und festzuhalten, denn die gehören den Trauernden ganz alleine.
Haben Sie schon über Ihre eigene Beerdigung nachgedacht?
Ich habe meinen Körper der Medizin vermacht, es wird also kein Begräbnis geben. Wer über mich spricht und was gesagt wird, ist nicht meine Sache, sondern die meiner Hinterbliebenen. Ein Freund sagte neulich: ‹Unsere befugtesten Richter sind unsere Kinder.› Da ist was dran. Einziger Wunsch wäre, dass ‹Always look on The Bright Side of Life› von Monty Python gespielt wird.
Kennen Sie das Geheimnis eines guten Lebens?
Wenn der oben angesprochene gute Wolf in uns am Ende unseres Lebens feist und wohlgenährt ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir ein gutes Leben hatten, sehr hoch. Das Geheimnis eines guten Lebens ist ein offenes Geheimnis. Im Grunde wissen wir das doch alle, oder? Das Wichtigste im Leben ist die Liebe.
Das Ping-Pong mit Trauerredner Carl Achleitner wurde schriftlich geführt.