Max Verstappen sichert sich seinen vierten WM-Titel in der Formel 1 in schwierigem Umfeld. Der Niederländer trotzt dem Machtverlust des Teams Red Bull und internen Querelen.
Nein, Superman ist er nicht, will er nicht, kann er nicht sein. Er hat keine übernatürlichen Kräfte, keinen Röntgenblick, er ist nicht unverwundbar und kann nicht fliegen. Der Vergleich mit dem Fast-Alles-Könner aus der Fantasiewelt drängt sich trotzdem auf. Als Autorennfahrer hat Max Verstappen etwas von Übermensch.
Der Übermensch Verstappen spielt schon seit Längerem die Hauptrolle in der Formel 1. Er ist das, was seinem Selbstverständnis entspricht, was er schon in seinen Anfangsjahren in der global wichtigsten Rennserie als seine Bestimmung gesehen hat. Seine hohe Fahrkunst hat ihn hohe Ziele setzen lassen. Diese Überzeugung hat sich nach schwierigem, von Misstönen begleitetem Einstieg rasch flächendeckend in seiner Arbeitswelt breit gemacht. Die Zweifler und Nörgler, die ihm als Teenager im Alter von 17 Jahren die Tauglichkeit für Einsätze auf höchster Ebene abgesprochen haben, hat Verstappen im Handumdrehen eines Besseren belehrt.
Zahlreich sind die filmreifen Szenen, für die Verstappen in seinen ersten zehn Jahren als Formel-1-Fahrer gesorgt hat. Dafür steht unter anderem sein erstes zählbares Ergebnis, das er bereits bei seinem zweiten Start mit Rang 7 im Grossen Preis von Malaysia erreicht hat – als Angestellter des Teams Toro Rosso und deshalb nicht in einem Auto der Güteklasse 1. Da ist auch das Finale in Abu Dhabi vor drei Jahren, in dem er in einem dramatischen und umstrittenen Rennen seinen ersten Titel gewonnen hat.
Die internen Machtkämpfe
Nach zwei von Verstappens krasser Dominanz geprägten Saisons, in denen der Niederländer im mit Abstand besten Auto schaltete und waltete, wie es ihm beliebte, bot der Weg zum vierten Titelgewinn wieder Spektakel, und zwar auf und neben der Piste. Verstappen behauptete sich in einem Jahr, in dem er im Lager der Roten Bullen nicht mehr Alleinunterhalter und schon gar nicht mehr unangefochtener Hauptdarsteller war. Interne Querelen und Machtkämpfe, an deren Ursprung der ins Zwielicht geratene Teamchef Christian Horner «wegen unangemessenen Verhaltens gegenüber einer Angestellten» stand, rückten ins Zentrum des Interesses. Der Abgang von Designer Adrian Newey, dem das vergiftete Klima die Grundlage für seriöses Arbeiten entzog, würde ebenso wie der sportliche Machtverlust des Rennstalls genügend Stoff für eine Verfilmung liefern.
Mit der «Affäre Horner», die Erschütterungen bis in die Konzern-Zentrale ausgelöst hat, und dem Wegzug Neweys ist das Gefüge im Team Red Bull in Schieflage geraten. Verstappen ist ein Teil des Nährbodens weggebrochen, auf dem er als Fahrer und als Mensch weiter hat reifen können. Das über Jahre gewachsene Gemeinsame, das für den grossen Erfolg steht, ist nicht mehr. Der Weltmeister findet nicht mehr die gleichen Arbeitsverhältnisse vor. Sein volles Vertrauen geniesst von den Herren aus der Chefetage einzig noch Helmut Marko, in der Motorsportabteilung des Getränke-Imperiums als Berater angestellt. Stillstand wird es gleichwohl keinen geben. Der neue und alte Weltmeister wird, auch zusammen mit seinem Vater Jos, seinem wichtigsten Ansprechpartner ausserhalb der Formel-1-Blase, Lösungen finden.
Die erschwerten Bedingungen setzten Verstappen natürlich zu. Er wurde dünnhäutiger. Er hielt mit Kritik nicht zurück und machte seine Unzufriedenheit publik. Die Partnerschaft mit seinem Arbeitgeber wurde zur Zerreissprobe. Zwischenzeitlich stand sogar die Fortsetzung der Zusammenarbeit, das Erfüllen seines bis zum Ende der Saison 2028 gültigen Vertrages, auf dem Spiel. Der Erfolgsverwöhnte fand sich in einer Situation wieder, die ihm als Dauersieger fremd geworden war, die ihn in jene Zeit zurückwarf, in der er und seine Mitstreiter keine Mittel gefunden hatten, im Titelkampf gegen Lewis Hamilton und die Equipe Mercedes zu bestehen.
Verstappen wurde vieles zu viel. Das verschobene Machtgefüge in der Formel 1 nagte an ihm, das Abrutschen des Teams bis auf Position 4 in der Hierarchie machte ihm zu schaffen. Die in die falsche Richtung vollzogene Weiterentwicklung des Autos liessen in ihm als Fahrer wieder Tugenden aufkommen, die er längst hinter sich gelassen zu haben schien, die er in Zeiten der absoluten Dominanz auch nicht mehr nötig gehabt hatte.
Die überschrittenen Grenzen
Verstappen entdeckte das Kompromiss- und Rücksichtslose neu. Er überschritt vorab in Duellen mit dem Briten Lando Norris im McLaren, den die Techniker dank klugen Anpassungen zur Nummer 1 im Fuhrpark der Formel 1 machten, mehrmals die Grenzen des Erlaubten. Sein Ehrgeiz, seine Sturheit, aber auch die Gedanken an die Gefahr, im Titelrennen den Kürzeren zu ziehen, trieben ihn hin und wieder zu unüberlegtem Handeln, das ihn im blauen Auto wieder zum roten Tuch werden liess.
Zehn Grands Prix hintereinander hatte Verstappen nicht mehr gewonnen, bis er vor drei Wochen im Grossen Preis von São Paulo auf nasser Piste von Startplatz 17 zum Sieg stürmte. Es war ein Auftritt ohne Fehl und Tadel, ohne Techtelmechtel mit der Konkurrenz. Es war der zweitletzte Schritt zur neuerlichen erfolgreichen Titelverteidigung. Eine weltmeisterliche Darbietung, absolut filmwürdig.
Ohne das Zutun des Niederländers hätte die unbefriedigende Phase wohl noch länger gedauert beziehungsweise hätte sie um einiges früher begonnen. Im ersten Saisondrittel siegte er noch, als die technischen Vorteile längst nicht mehr auf seiner Seite lagen, als nicht nur die Ingenieure des Teams McLaren, sondern auch die des Rennstalls Mercedes und der Scuderia Ferrari bessere Entwicklungsarbeit geleistet hatten. Verstappen errang Siege oder schaffte Podestplätze in jener Zeit dank dem eigenen Können. Seine Fahrkünste erlaubten ihm, die Schwächen des Autos zum Teil zu kompensieren.
Über seine neuesten Taten wird Verstappen nicht Buch führen. Er macht sich nichts aus Statistiken und mag auch die Vergleiche gerade mit Fahrern aus anderen Epochen nicht. Seine nüchterne Betrachtungsweise hat nichts mit Arroganz zu tun. Seit seinem ersten Titelgewinn lebt er in seinem sportlichen Alltag nur noch im Moment. Den Blick zurück hebt er sich für die Zeit nach seiner Karriere auf.
Verstappen wird es also gelassen zur Kenntnis nehmen, mit vier WM-Titeln in Folge einem Zirkel anzugehören, in den es bisher nur Manuel Fangio, Michael Schumacher, Sebastian Vettel und Hamilton geschafft haben. Auch die bisherige Saisonbilanz mit acht Siegen und fünf weiteren Podestplätzen trotz der Turbulenzen ist der Leistungsausweis eines aussergewöhnlich guten Rennfahrers, eines Übermenschen. Etwas von Superman hat der Niederländer eben doch.
ber, sda