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Trotz positiven Fazits «Generalstreik 1918»: Das fehlte im SRF-Film
von Cilgia Grass, Redaktorin
9.2.2018
Die SRF-Doku-Fiction «Generalstreik 1918» hat gestern gezeigt, warum es in unserem Land beinahe zu einem Bürgerkrieg gekommen wäre. Der Schweizer Historiker Christian Casanova liefert Fakten nach, die im 90-Minüter keinen Platz hatten.
Christian Casanova (52) ist Historiker im Stadtarchiv Zürich. Für «Bluewin» hat er sich die Doku-Fiction «Generalstreik 1918», die am Donnerstag, 8. Februar, um 20.05 Uhr auf SRF 1 lief, angesehen. Sein Fazit: «Die Dok-Sendung ist gelungen und endet mit der wichtigen Würdigung der Zusammenarbeit zwischen den bürgerlichen Parteien und der SP, zu der sich die Schweiz im Nachgang zum Landesstreik bis heute bekennt.»
Dem Zuschauer werde klar: «Der soziale Frieden ist keine Selbstverständlichkeit, besonders nicht in Zeiten der Not und sozialer Spannungen. Das heutige demokratische Miteinander der politischen Kräfte ist also eine Leistung, die hart errungen wurde und immer wieder von neuem errungen werden muss.»
Einige Ergänzungen und Präzisierungen zur SRF-Doku-Fiction hat der Historiker dennoch:
Streiktradition in der Schweiz
«Der damaligen Situation nicht ganz gerecht wird die mehr oder weniger ausschliessliche Fokussierung auf den Generalstreik, also auf die Tage vom 12. bis 14. November», sagt Casanova. In der Dokumentation werde praktisch ausgeklammert, dass dem Landesstreik teils heftige Unruhen, lokale Streiks und Demonstrationen vorangegangen seien. «Generell ist zu bemerken, dass die Streikhäufigkeit in der Schweiz schon vor dem Ersten Weltkrieg eine der höchsten in Europa war», erklärt Casanova. «So gesehen ist der Landesstreik also nicht als isoliertes Geschehen aufzufassen. Das kommt im Film eher zu kurz.»
Profiteure mitschuldig an der Krise
Ein weiterer Punkt betrifft die Kriegsgewinnler. Zwar werde im Film erwähnt, dass es sie gab. «Es wird aber nicht näher erörtert, wie sehr diese Tatsache insbesondere für die Zuspitzung der sozialen Spannungen mitverantwortlich war», sagt Christian Casanova. Je mehr sich die Notsituation verschärft habe, desto mehr sei in der Bevölkerung der Unmut über die sogenannten Kriegsgewinnler, Schieber, Wucherer und Spekulanten gestiegen. Diese hätten ihren Wohlstand oftmals mit unverschämter Arroganz zur Schau gestellt. «Die Zürcher Arbeiterschaft bezeichnete die Kriegsgewinnler 1918 gar als 'Schädlinge an der Allgemeinheit' und verlangte, diese mit Zuchthaus zu bestrafen», erklärt der Historiker. Wie astronomisch die teils ganz legal erwirtschafteten Gewinne ausfallen konnten, sei etwa an Sandoz beispielhaft abzulesen. Casanova: «Im Jahr 1916 zahlte das Pharmaunternehmen seinen Aktionären eine Dividende von 375 % aus.» Ähnlich astronomische Gewinne habe etwa die weniger bekannte Schuhfabrik Brittnau AG vorgewiesen, die im Laufe des Jahres 1917 bei einem Aktienkapital von 36'400 Franken einen Reingewinn von 461'000 Franken erzielte und den Aktionären einen Gewinnanteil von 450 % des Aktien-Nominalwertes ausbezahlen konnte. «Das muss man sich mal vorstellen. Letztlich darf dieser Befund durchaus auch zum Denken anregen», sagt Casanova. Und betont: «In der Tat haben wir aktuell eine Vermögensverteilung, die noch viel extremer ist als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch hat sich die Lohnschere in der Schweizer Privatwirtschaft weiter geöffnet. Solche Entwicklungen können – das lehrt uns die Geschichte – durchaus sozialen Sprengstoff bergen.»
Auch die Bauern hatten Vorteile
Gemäss Christian Casanova profitierten auch die Bauern von den stetig steigenden Preisen. «Sie hatten eine gewichtige Stimme und gehörten ebenfalls zu den wirtschaftlichen Gewinnern des Kriegs», so der Historiker. Bereits 1897 hatten sich die Bauern zum schweizerischen Bauernverband zusammengeschlossen. «Unter der Führung ihres geschickten und machtbewussten Sekretärs Ernst Laur – er wurde auch Bauernkönig genannt – verstanden sie, die Kriegssituation zu nutzen», so Casanova. Die im Film erwähnte Erhöhung des Milchpreises im April 1918 von 32 auf 40 Rappen pro Liter sei auf Drängen des Bauernverbands erfolgt: «Letztlich wurden die Bauern in dieser Zeit zu einem der schärfsten und widerstandskräftigsten Gegner einer klassenbewussten Arbeiterpolitik.» Das sei nicht verborgen geblieben und hätte zu einer bauernfeindlichen Strömung geführt, die sich in der Arbeiterschaft bereits vor dem Krieg manifestiert und schliesslich auf weite Kreise der städtischen Bevölkerung übergegriffen hätte. Casanova: «Ein bemerkenswertes Detail in diesem Zusammenhang ist übrigens, dass der Bundesrat im November 1918, als es darum ging weitere Truppen in den städtischen Zentren zu stationieren, vorwiegend Männer aus bäuerlich-ländlichen Gegenden aufbot.»
Nicht ganz getroffen: der Arbeiterführer
Etwas zu geschliffen kommt für Christian Casanovas Geschmack Robert Grimm im Film daher. Zweifelsohne sei Grimm eine sehr gewinnende Persönlichkeit gewesen. Und, wie im Film auch festgestellt werde, eine charismatische Führerfigur und ein ausdauernder Agitator. «Aber zugleich war Grimm auch die umstrittenste Persönlichkeit der schweizerischen Arbeiterbewegung. Er hat seine Umgebung dominiert und galt in den eigenen Reihen als sehr selbstbewusst, ehrgeizig, autoritär und nicht frei von Widersprüchen», so Casanova. Fritz Marbach, Grimms Weggefährte, hätte dem Arbeiterführer in seinen Memoiren zwar einen erstaunlichen politischen Realitätssinn und eine Gabe als schlauer Taktiker attestiert. Gleichzeitig stellte Marbach aber auch fest, dass er während rund 20 Jahre in Sitzungen und Konferenzen Robert Grimm nur selten ohne Angstgefühle oder Beklemmung gegenübergesessen habe. «Etwas kantiger hätte Grimm im Film also durchaus dargestellt werden können», so Casanovas Fazit.
Gut getroffen: der Militarist
Die Darstellung von Oberstdivisionär Emil Sonderegger hält der Historiker dafür für sehr treffend. «In der Tat war er der schneidige und autoritäre Militarist. Ein Haudegen und ein fanatischer, letztlich skrupelloser Scharfmacher, der in der Arbeiterklasse einen Gegner ausmachte, dem er permanent die Absicht zuschrieb, einen bewaffneten Bürgerkrieg herbeiführen zu wollen», so Casanova. Bezeichnend für den Charakter Sondereggers sei sein Verhalten nach der Demonstration auf dem Münsterplatz in Zürich. Am Tag danach liess er in der Stadt warnende Plakate aufhängen, auf denen stand, die Infanterie würde mit 40 Handgranaten pro Kompagnie ausgerüstet und es gälte der Befehl, diese zu gebrauchen, wenn aus Kellern und Fensterlöchern geschossen würde. Casanova: «Damit goss er wohl mehr oder weniger bewusst Öl ins Feuer.»
Vermisst: General Wille
«Für mich nicht ganz nachvollziehbar ist, dass der eigentliche Oberbefehlshaber der Schweizer Armee, General Wille, im Film praktisch nicht vorkommt», sagt Casanova. «Sonderegger hatte nämlich durchaus auch einen Vorgesetzten.» Wille sei für Sonderegger prägend gewesen, weil er konsequent den Aufbau einer durch Erziehungsdrill geprägten, streng geführten Milizarmee verfolgt und sich klar an der preussisch-deutschen Soldatenerziehung und am ständischen Offiziersbewusstsein orientiert hätte. Autoritäre Normen und Werte hätten sein Denken geprägt. «Schon im Vorfeld der Phase des Landesstreiks vertrat er die Ansicht, mit imponierender militärischer Stärke präventiv zu wirken», so Casanova. Die Besetzung der Städte Zürich und Bern mit Kavallerie und Infanteriebataillonen aus ländlichen Gegenden sollte die Arbeiterklasse einschüchtern. Casanova: «Wille feierte den Abbruch des Landesstreiks schliesslich als Erfolg dieser Strategie. Ohne Wille also auch kein Sonderegger – so die einfache Formel.»
Vermisst: Die Bürgerwehren
«Keine Erwähnung finden im Film die Bürgerwehren, die in der Phase vor und nach dem Landesstreik entstanden», sagt Christian Casanova. Sie sollten zur Abwehr einer von bürgerlicher Seite befürchteten Revolution dienen. Bereits am 7. November 1918 sei eine Bürgerwehr in Genf gegründet worden, weitere Gründungen folgten in den Städten Bern, Basel, Luzern und im Aargau. «In Zürich rief am 14. November ein anonymes Organisationskomitee – dahinter standen letztlich die Zünfte – zum Eintritt in die so genannte 'Zürcher Stadtwehr' auf. Es sollen gegen 10'000 Freiwillige diesem Aufruf gefolgt sein», so Casanova. Die Stadtwehr wollte gemäss ihrer eigenen Vorstellungen im Notfall an die Seite der zürcherischen Ordnungstruppen treten. «Eine hochbrisante Vorstellung», so Casanova. Der Bundesrat habe eine ambivalente Haltung gegenüber den Bürgerwehren gehabt, die sich vor allem aus Mitgliedern des kleinbürgerlich-gewerblichen und bäuerlichen Milieus rekrutierten. Auch sei darüber debattiert worden, ob die Bürgerwehren bewaffnet werden sollten oder nicht, so der Historiker. «General Wille zeigte sich demgegenüber immerhin recht skeptisch. Fakt ist allerdings, dass es während des Landesstreiks zu Auseinandersetzungen zwischen Bürgerwehren und Streikenden kam.» 1919 wurde dann sogar der «Schweizerische Vaterländische Verband» gegründet, ein privater rechtsbürgerlicher Verein als Zusammenschluss verschiedener Bürgerwehren, der die Abwehr «sozialistischer Umsturzversuche» zum Ziel hatte.
Erwünscht: Mehr zu den Langzeitfolgen des Generalstreiks
«Persönlich hätte ich mir von den interviewten Historikern auch noch eine eingehendere Wertung der längerfristigen Wirkungen des Landesstreiks gewünscht», meint Christian Casanova zum Abschluss. Diese würden in der Forschung nämlich durchaus kontrovers diskutiert. «So zum Beispiel die spätere Realisierung der AHV und der Alters- und Hinterbliebenen-Versicherung oder die Einführung des Frauenstimmrechts – alles zentrale Generalstreik-Forderungen.» Das Thema werde nur im Abspann des Films festgehalten. «Wahrscheinlich war dafür aber schlichtweg auch keine Zeit mehr übrig», so Casanova.
«Die kurz- und mittelfristigen Wirkungen des Landesstreiks wie Lohnerhöhungen, kürzere Arbeitszeit und generell bessere Arbeitsbedingungen werden im Film durch die Historiker ausführlich erläutert», kontert Hansjürg Zumstein, der das Drehbuch zur SRF-Doku-Fiction «Generalstreik 1918» geschrieben hat. Und fügt an: «Die anderen Forderungen wie AHV und Frauenstimmrecht wurden erst viele, viele Jahre später realisiert, konkret 1948 respektive 1971. Zu diesem Zeitpunkt war der Generalstreik Vergangenheit, andere Erklärungsmuster waren weit wichtiger.»
Die Realisation von «Generalstreik 1918» sei eines der spannendsten Projekt in seiner Fernseh-Laufbahn gewesen, meint Zumstein weiter. «Die besondere Herausforderung war, die Atmosphäre von 1918 möglichst exakt zu treffen, sei es bezüglich Kostüme, Drehorte oder Dialoge.»
Auf die Frage, wie zufrieden er mit dem Endergebnis ist, meint er: «Ich lasse lieber andere sprechen: Die Uraufführung am Filmfestival Solothurn war zwei Mal restlos ausverkauft. Die Publikumsreaktionen waren überwältigend. Was wünscht man sich mehr?!»
«Generalstreik 1918» lief am Donnerstag, 8. Februar, um 20.05 Uhr auf SRF 1. Mit Swisscom TV Replay können Sie die Sendung bis zu sieben Tage nach der Ausstrahlung anschauen.
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