Literatur – Serie (1) Leise Emanzipationen im Heimatroman «Verschiebung im Gestein»

sda

4.11.2024 - 10:59

Mariann Bühler hat sich bisher als Literaturvermittlerin und Veranstalterin einen Namen gemacht. Nun ist sie erstmals als Romanautorin an die Öffentlichkeit getreten. Mit "Verschiebung im Gestein" ist sie für den Schweizer Buchpreis 2024 nominiert.
Mariann Bühler hat sich bisher als Literaturvermittlerin und Veranstalterin einen Namen gemacht. Nun ist sie erstmals als Romanautorin an die Öffentlichkeit getreten. Mit "Verschiebung im Gestein" ist sie für den Schweizer Buchpreis 2024 nominiert.
Keystone

Mit dem Roman «Verschiebung im Gestein» ist Mariann Bühler für den Schweizer Buchpreis nominiert. Ihr Stoff ist archaisch, ihre Erzählkunst frei von modischen Attitüden. Ein souveräner Erstling.

«Die Erinnerung ist ein gebirgiges Land. Kein einfaches Gelände, immer wieder verliert er die Spur. Hinter allem taucht etwas auf, nicht neu, aber lange nicht gesehen. Jahre ziehen an ihm vorbei. Sie sind ihm durchgebrannt, wie Rinder im Frühjahr.» Mit Rindern kennt Alois sich aus.

Er bewirtschaftet einen Hof, den er geerbt, aber eigentlich nicht gewollt hat. Eine Frau hat er immer noch nicht, dafür eine mahnende Schwester. Den einzigen Freund hat er aufgegeben. Alois wird schwer, immer schwerer, bis er es nicht mehr aushält. Dann verpachtet er den Hof und geht weg. Nicht flugs nach Übersee, sondern zu Fuss, mit Rucksack und Karte.

Drei Hauptfiguren

Alois ist eine von drei Hauptfiguren im Roman «Verschiebung im Gestein» der Innerschweizer Autorin Mariann Bühler. In ihm verdichtet sie archaische Elemente schweizerischer Identität und Männlichkeit: Berge, die bezwungen, Kühe, die gemolken, Tannen, die gefällt werden müssen. Ausserdem «war Alois noch nie einer, der weint». Trotzdem bricht seine harte Kruste irgendwann auf wie die Erdoberfläche, wenn sich tektonische Platten verschieben. «Das Gestein links der Rinne ist dunkel. Das Gestein rechts ist hell», notiert die Autorin in einem der kurzen geologischen Zwischenstücke im Buch. «Beide Gesteine stehen steil, haben sich in ihrem Aufeinandertreffen aneinander aufgerichtet.»

Erstaunlich, dass 2024 ein so traditionelles Buch für den Schweizer Buchpreis nominiert ist. Gewöhnlich orientiert sich die von der Buchhandelsbranche vergebene Auszeichnung eher an Markt und Zeitgeist. Mariann Bühlers Sprache aber wirkt wenig modisch, vielmehr solide, von Helvetismen durchdrungen, tragend wie Fels. Von ihren Hauptfiguren erzählt sie in Brocken so kantig und trotzig wie das Schweizer Selbstverständnis in der globalisierten Welt. Die Betrachtungen des Gesteins am alpinen Spielort zeigen zwar, dass dort einst ein Bruchstück der afrikanischen Platte auf die europäische gestossen ist, doch sie tun dies poetisch, nicht politisch.

Menschlich statt ideologisch

Ohne zu werten begleitet Mariann Bühler nicht nur Alois, sondern auch die zweite Hauptfigur, Elisabeth, durch ihr Leben. Beide sind in alten Geschlechterrollen gefangen. Für Elisabeth geht es darum, nach dem Tod ihres gewalttätigen Mannes erstmals selbst über ihr Leben zu bestimmen. Sie übernimmt seine verwaiste Bäckerei und macht alles ganz anders als er. Das führt auch dazu, dass sie sich eines Tages ihrer alten Liebe zu einer Frau stellen muss.

Leise und ohne ideologischen Überbau schneidet Bühler Themen wie sexuelle Orientierung und Identität an. Sich selbst hat sie mit diesem Roman von der Literaturveranstalterin und Moderatorin zur Autorin emanzipiert. Nach einigen Publikationen in Literaturzeitschriften, Auszeichnungen und Stipendien war ihr erster Roman schon fast überfällig. Sieben Jahre Arbeit stecken darin.

Bezeichnenderweise hat die dritte Hauptfigur im Roman keinen Namen. Dieses Ich spricht die Lesenden mit Du an, spricht eine jüngere Generation an als diejenige, zu der Alois und Elisabeth gehören. Wie die 42-jährigen Autorin, die seit langem in Basel lebt, ist diese Figur weggezogen, in die Stadt. Zurück ins Dorf kommt sie nur zu Besuch – oder wenn sie eine Auszeit braucht, in sich gehen will, Klarheit sucht. «Du vermisst die Berge nicht», stellt sie fest, «und bist doch beruhigt, dass sie noch da sind, wenn du sie wiedersiehst."*

*Dieser Text von Tina Uhlmann, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.

sda