Kolumne am MittagDieser Mann schürft tief – ob tief genug, ist höchst umstritten
Von Bruno Bötschi
7.4.2021
Manche sehen in ihm einen Hedonisten, einen oberflächlichen Abenteurer. Das ist Victor Vescovo egal – solange er an die entlegensten Orte der Welt gelangt.
Von Bruno Bötschi
07.04.2021, 11:25
07.04.2021, 16:13
Bruno Bötschi
Schon als Kind habe er sich gefragt, was auf der anderen Seite des Hügels sei. Mit 20 bestieg er dann erstmals einen Berg, erzählt Victor Vescovo im «S-Magazin», der Stilbeilage des «Spiegel». «Je mehr Mittel und Möglichkeiten sich mir boten, umso weiter bin ich gegangen. Ich habe meine Grenzen verschoben, meinen Blick verbreitert.»
Nun ja, Victor Vescovo besitzt ziemlich viele Mittel. Er ist Ex-Investmentbanker, Navy-Offizier und Investor. Er sagt: «Ich bin nicht Milliardär, aber mir geht es gut.»
Der 55-Jährige besitzt nicht nur viel, viel mehr Geld als die meisten Menschen auf der Welt, er besitzt auch eine deutlich grössere Portion Abenteuerlust als die meisten von uns. Ja, der gebürtige Texaner, weisser Vollbart, das grau-blonde Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden, hat ein Faible fürs Extreme.
Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde
Vescovo hat als erster Mensch die höchsten Punkte sämtlicher Kontinente erreicht und gelangte auf Skiern an den Nord- und Südpol. Er ist zudem in die tiefsten Gräben der Ozeane abgetaucht, zuletzt 11'000 Meter unter dem Meeresspiegel im Marianengraben. 2019 erhielt er für dieses spektakuläre Palmarès einen Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde.
Es sei eine unbeschreibliche Erfahrung, an einen Ort zu kommen, an dem noch nie jemand war. «Man wird süchtig danach», so Vescovo, der mittlerweile ein Dutzend Male im Marianengraben war.
«Wenn ich allein über dem Boden des Ozeans herumfahre, fühle ich mich wie damals der zehnjährige Junge mit dem ersten Velo: ganz wunderbar und frei. Ich habe keinen Plan und keine Angst. Ich erlebe ein Wunder.» Begeisterung sei jene Fähigkeit, die viele Menschen im Alter leider verlieren und darüber unglücklich würden.
Er habe in den Tiefen des Ozeans zuvor unbekannte Lebensformen gesehen und geologische Phänomene. «Es ist faszinierend, wie das Leben aussehen kann, auch wenn ich nicht weiss, was das alles bedeutet.» Er sei ja kein Wissenschaftler.
Nichtsdestotrotz werden auf seinen Expeditionen Daten erhoben. Vescovo will seine Ressourcen für die Allgemeinheit, für das menschliche Fortkommen nutzen. «Das ist meine Lebensaufgabe.» Deshalb sind auch alle Erkenntnisse, die er während seiner Abenteuer sammelt, allgemein zugänglich über Open Source.
«Ich bin ein hoffnungsloser Optimist»
Ob die Daten auch wissenschaftlich bedeutsam sind? Das ist noch unklar. «Vielleicht kann ich damit einen signifikanten Beitrag für den Fortschritt leisten», sagt Vescovo. «Ich bin ein hoffnungsloser Optimist, physikalische Grenzen fordern mich heraus.»
Kritiker hingegen behaupten, er lebe die wissenschaftlich verbrämte Abenteuerlust eines Hedonisten aus. Früher, hält Vescovo diesen entgegen, hätten es die Menschen für unmöglich gehalten, dass jemand einen Marathon laufen könne, also 42,195 Kilometer weit rennen – bis es einer getan habe. Seither sei das normal.
«In den letzten 2000 Jahren hat sich technologisch und wissenschaftlich Unglaubliches getan, heute bestimmt die Wissenschaft unser Leben», so Vescovo im «S-Magazin». Er sei überzeugt davon, dass die Menschen die Grenzen weiter verschieben werden. Fortschritt könne nur gelingen, wenn man fortschreite und sich geistig nicht beschränken lassen.
Victor Vescovo glaubt, dass sein Leben einen Sinn hat, «weil ich dazu beitrage, unser aller Möglichkeiten zu erweitern. Das ist für mich Ausdruck von Freiheit – dem höchsten Gut überhaupt».
Regelmässig gibt es werktags (und manchmal auch am Samstag) um 11:30 Uhr bei «blue News» die Kolumne am Mittag – sie dreht sich um bekannte Persönlichkeiten, mitunter auch um unbekannte – und manchmal wird sich auch ein Sternchen finden.