Interview «In Italien belohnt nur die Mafia talentierte Leute»

tafi

25.8.2019

In «Paranza - Der Clan der Kinder» übernehmen Jugendliche in Neapel die Mafia. «Gomorrha»-Autor Roberto Saviano hat die wahre Geschichte aufgeschrieben – von der Ausweglosigkeit der Kinder und ihrem Tod ist er nach wie vor gezeichnet.

Seit mehr als 13 Jahren steht Roberto Saviano unter Polizeischutz: Sein detailliert recherchierter Sachbuch-Bestseller «Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra» (2006), auf dem ein gefeierter Kinofilm und eine brillante TV-Serie beruhen, hat den Zorn der neapolitanischen Mafia auf ihn gelenkt. Ein Leben im erzwungenen Untergrund ist für den 1979 geborenen italienischen Journalisten aber kein Grund, sich nicht mehr kritisch mit Wesen und Wirken der Camorra in seiner Heimatstadt auseinanderzusetzen.

Um verarbeiten zu können, was vor zwei Jahren in Neapel passierte, musste sich Saviano allerdings in die Fiktion flüchten: In seinem nun verfilmten ersten Roman «Paranza – Der Clan der Kinder» (Kinostart: 22. August), für das Saviano auch das bei der Berlinale mit einem Silbernen Bären ausgezeichnete Drehbuch schrieb, erzählt er die wahre Geschichte von Kindern, die in Neapel die Macht in der Mafia übernehmen. Was als Spiel begann, endete in tödlicher Ausweglosigkeit: Davon ist Roberto Saviano beim Interview in Berlin immer noch gezeichnet.

Herr Saviano, dass Kinder die Macht in der Mafia übernehmen, klingt unglaublich: Was hat Sie denn dazu veranlasst, einen Roman darüber zu schreiben?

So unglaublich die Geschichte klingen mag, ist sie gleichwohl wahr: 2017 hatten es zum ersten Mal in der Geschichte des organisierten Verbrechens Kinder in Neapel ganz nach oben geschafft, an die Spitze der Mafia. Sie waren zwischen zehn und sechzehn Jahre alt. Das Verbrechen erreichte eine neue Dimension. Ich fand das so unglaublich, dass ich beschloss, die Geschichte der Kinder aufzuschreiben.

Was passierte damals genau?

Die meisten alten Mafiabosse sassen im Gefängnis oder standen unter Hausarrest. Dieses Machtvakuum ermutigte die Kinder zu ihrer Entscheidung, die Macht auf den Strassen und in den Vierteln zu übernehmen. Nach wenigen Wochen «verdienten» sie bis zu 400'000 Euro pro Monat.

Sie arbeiteten bislang vornehmlich journalistisch und als Sachbuchautor. Warum haben Sie die Geschichte der Kinder in einem Roman verarbeitet?

Das war eine ganz bewusste Entscheidung: Die Fiktionalisierung eröffnete mir mehr Möglichkeiten, mich in die Kinder hineinzuversetzen, die vor zwei Jahren die Altstadt Neapels, die mitnichten ein bourgeoises Zentrum ist, übernommen haben.

Wie war es für Sie, aus Ihrem Roman ein Drehbuch zu machen?

Für das Drehbuch musste ich meinen Roman betrügen. Das hat mir sehr gefallen, weil ich glaube, dass ein solcher Betrug ein Akt der Liebe ist. Ein Buch lässt sich im Kino nicht duplizieren, aber zu einem neuen, anderen Leben erwecken. Dafür muss man aber respektvoll mit der ursprünglichen künstlerischen Arbeit umgehen. Es hat mich dann auch sehr bewegt, die Arbeit der jungen Darsteller zu sehen. Ich war freilich nie bei den Dreharbeiten, um die Kinder nicht zu gefährden. Um sie zu schützen, stand beim Dreh nicht einmal der Filmtitel auf der Klappe.

Was bei «Paranza – Der Clan der Kinder» ins Auge springt: Die Eltern kommen, bis auf einige wenige Szenen mit der Mutter des Protagonisten, nicht vor. Warum haben Sie sie aus der Gleichung genommen?

Der Film sollte sich auf die Kinder konzentrieren, weil es in den Vierteln, in denen sie leben, keine Strukturen gibt: keine Schule, keinen Staat, nicht einmal Familie. Es ist eine gescheiterte Welt. Wir wollten diese komplette Abwesenheit von gesellschaftlichen Gerüsten zeigen. Und: Was kann denn eine Mutter in dieser Leere schon tun?

Vorgeschmack auf «Paranza».

Prokino

Konnten Sie denn mit den Betroffenen sprechen?

Mit den wenigen Überlebenden? Ja, mit einigen von ihnen traf ich mich. Die meisten hatten den Sommer ja nicht überlebt. Einen grossen Teil der Hintergrundinformationen erhielt ich allerdings aus den Polizeiakten. Die Dialoge basieren etwa auf Transkripten von Audioaufnahmen aus Überwachungsmassnahmen.

Was glauben Sie hat die Kinder dazu bewogen, die bestehenden Machtverhältnisse herauszufordern?

Auch wenn es merkwürdig klingt: In Italien ist die Mafia die einzige Organisation, die das Talent ihrer Mitglieder erkennt, fördert und belohnt. Für die Kinder ist das organisierte Verbrechen oftmals die einzige Möglichkeit, ausreichend Geld zu verdienen. Realistisch für die Jugend sind normalerweise etwa 50 Euro pro Woche, Schwarzgeld – ohne soziale Absicherung, ohne Rentenansprüche. Ganz oben in der Mafia-Hierarchie zu stehen, sahen sie also als Chance, und an Waffen zu kommen, war für sie, als würden sie Aladdins Wunderlampe finden. Sie konnten sich plötzlich Wünsche erfüllen – schicke Klamotten und Schuhe etwa. Nicht zu vergessen: Sie gewannen an Selbstbewusstsein. Allerdings endete, was als Spiel begann, in einem tödlichen Krieg.

Wenn die Mafia die einzige Organisation ist, die Menschen fördert, klingt das nach einem grundlegenden strukturellen Problem in Italien ...

Das trifft für den Süden in besonderem Masse zu, lässt sich aber auch in den Randbezirken von Grossstädten beobachten. Nicht nur in Italien. Auch in Deutschland gibt es Kohorten von Abgehängten in Problemvierteln, in denen die organisierte Kriminalität das Sagen hat. Nur spricht hier kaum jemand darüber. Das mag daran liegen, dass es weit weniger Todesopfer gibt als in Italien. Das mag aber auch an einer gewissen Ignoranz liegen: Man glaubt, dass Bandenkriege in Ghettos wenig bis keine Bedeutung für die Gesellschaft haben. Aber das ist kein spezifisch deutsches Problem, sondern trifft auf immer mehr westliche Gesellschaften zu.

Wie hat sich die Clan-Kriminalität in den vergangenen Jahren verändert?

Die Macht der Clans ist relativ stabil. Natürlich gibt es immer wieder Phasen, die blutiger sind, und Phasen, in denen es verhältnismässig ruhig bleibt. Was mich verwundert ist allerdings, dass das politische Europa Bedenken gegen mafiöse Strukturen und organisiertes Verbrechen ausgeräumt hat. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass London, Liechtenstein und Malta die Geldwäschezentren der Mafia sind. Wir halten Europa offen für schmutziges Geld, schliessen aber die Tore für Flüchtende.

Sie stehen wegen Ihrer Berichte und Bücher über das organisierte Verbrechen seit Jahren unter Polizeischutz. Haben Sie jemals daran gedacht, sich doch lieber mit anderen Themen zu beschäftigen?

So zu leben ist wirklich nicht einfach. Ich mache das jetzt seit 13 Jahren. Aber ich glaube nicht, dass sich etwas ändern würde, wenn ich mich mit anderen Themen beschäftigen würde. Die einzige Lösung für mich wäre es, einfach zu verschwinden, irgendwo anders hinzugehen, den Rest meiner Tage am Ende der Welt zu verbringen und kein einziges Wort mehr zu schreiben. Ich bin zu einem Symbol geworden, zu einer politischen Zielscheibe im Kampf gegen die Mafia. Aber: Ich lasse mir meine Leidenschaft nicht verbieten. Ich wäre sonst nicht mehr authentisch; das ist zumindest meine eigene, subjektiv verfälschte Wahrnehmung. Ich kann mein Leben also nicht ändern, obwohl ich zugeben muss, hin und wieder versucht zu sein.

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