Fragen und Antworten Darum hat Russland seine Strategie geändert

Von Philipp Dahm

8.4.2022

Ukraine: Russischer Kampfjet stürzt in Wohngebiet

Ukraine: Russischer Kampfjet stürzt in Wohngebiet

STORY: Hier ist ein Flugzeug abgestürzt. Genauer gesagt: ein Kampfjet der russischen Luftstreitkräfte, mitten in ein Wohngebiet im ukrainischen Tschernihiw im Norden des Landes. Mitglieder der ukrainischen Verteidigungskräfte hatten die Sukhoi am Mittwoch entdeckt. Über das Schicksal des Piloten wurde zunächst nichts bekannt. Bereits am Montag hatten die ukrainischen Behörden mitgeteilt, die russischen Angreifer hätten sich aus dem Norden des Landes, so auch aus Tschernihiw zurückgezogen. Nach dem Abzug aus dem Grossraum Kiew haben sich die Kämpfe zunehmend in den Osten des Landes verlagert. Der Beschuss von Städten im Osten und Süden halte an, twitterte das britische Verteidigungsministerium am Freitag und bezog sich dabei auf Informationen des Militärgeheimdienstes.

08.04.2022

Der Kreml selbst erklärt die erste Phase des Krieges in der Ukraine für beendet. Was hat es mit dem Strategiewechsel auf sich? Und wie will man den Waffengang nun «siegreich» beenden? Fünf Fragen und Antworten.

Von Philipp Dahm

Ende März verkündet Moskau einen Strategiewechsel: Die erste Phase des Einsatzes in der Ukraine sei vorüber. Die Armee habe ihre Ziele im Norden des Landes erreicht, ziehe sich von dort zurück und werde sich jetzt auf den Donbas konzentrieren, hiess es aus dem Kreml.

Zumindest die letzten beiden Punkte scheinen wahr zu sein: Ob sich die Truppen nur neu formieren oder tatsächlich nun in den Osten der Ukraine abrücken, muss sich abschliessend zwar erst noch zeigen. Doch es sieht alles danach aus, als sei das ihr nächstes Ziel. 

Hier fünf Fragen, Antworten und Erklärungen zum russischen Strategiewechsel.

Was sollte der Vorstoss nach Kiew?

Am 31. Januar hat blue News den Text «So könnte Putins Invasion der Ukraine aussehen» veröffentlicht, in dem von drei Phasen die Rede ist: In den ersten beiden Etappen wird eine Landbrücke im Süden etabliert, die den Zugang der Ukraine zum Schwarzen Meer abschneidet, und das Gebiet östlich des Dnjepr unter Kontrolle gebracht, um dann Kiew einzukreisen. Wladimir Putin hat aber offenbar die dritte Phase vorgezogen.

In einer krassen Fehleinschätzung der eigenen und der gegnerischen Kräfte ist die russische Armee auf die Hauptstadt vorgeprescht und hat eine Speerspitze gebildet, die im Norden relativ rasch vorgedrungen ist. Das Problem: Da der Weg dieser Truppen quasi vorgezeichnet ist, müssen die Verteidiger nur abwarten, um die weiten, exponierten Flanken dieser Speerspitze anzugreifen.

Krieg in der Ukraine: Eine Karte mit vermuteten militärischen Einheiten und Frontlinien vom 25. März lässt erahnen, wie exponiert die Flanken der vom Norden vorgerückten russischen Truppen sind.
Krieg in der Ukraine: Eine Karte mit vermuteten militärischen Einheiten und Frontlinien vom 25. März lässt erahnen, wie exponiert die Flanken der vom Norden vorgerückten russischen Truppen sind.
Karte: @JominiW

Eine Armee prescht nur dann derart vor, wenn sie glaubt, sie könne die gegnerische Grundverteidigung durchstossen und dann Hauptquartier und Basis-Nachschub angreifen. Ein kluger Feind würde den Gegner deshalb natürlich in seinem Glauben bestärken, sofern er die Abwehrkräfte hat – etwa, indem man bewusst nicht mobilisiert, obwohl die Anzeichen für eine Invasion erkannt worden sind.

Warum ist der Vorstoss gescheitert?

Vieles wurde bereits angetönt: berechenbare Marschwege, schlechte Ausrüstung, Nachschub-Probleme, miese Moral. Auf der anderen Seite machen es die ukrainischen Verteidiger in diesen Belangen auch noch deutlich besser – und hinzukommen der intelligente Einsatz kleiner Waffen wie Panzerabwehrraketen oder Drohnen.

Doch das allein hätte nicht die Erfolge bewirkt, wie sie die ukrainische Armee feiern konnte. Ohne Aufklärung wäre das nicht möglich gewesen – und die besorgt der Westen. Dabei kommen Satelliten, aber auch jede Menge Spezialjets, Drohnen ...

... und sogar die Mutter aller Spionageflugzeuge, die U-2, zum Einsatz. Die Nato kann sich so ein umfassendes Lagebild machen und Kiew zeitnah mit wichtigen Informationen versorgen, sodass die Ukrainer mit Drohnen, Flugzeugen, Artillerie oder Bodentruppen zurückschlagen können.

Warum der Donbas?

Der Kreml kann den gescheiterten Vorstoss immer noch als Sieg verkaufen, wenn andere Ziele erreicht werden. Diese Phase würde dann wohl als eine Etappe verkauft werden, die angeblich notwendig war, um eine vermeintliche Demilitarisierung und Entnazifizierung zu erreichen. Ohne Erfolge im Südosten der Ukraine ist dieses Narrativ aber kaum haltbar.

Aus Moskaus Sicht müssen die Gebiete der Separatisten befriedet werden, indem die ukrainische Armee weit genug zurückgedrängt wird. Noch besser wäre es aus Sicht der russischen Armee, wenn sie dort die Verteidiger in einer Zangenbewegung einschliessen und aufreiben könnte, um Widerstand nachhaltig zu eliminieren.

Lage des Yuzivska-Gasfelds
Gemeinfrei

In den ostukrainischen Gebieten befindet sich wertvolle Maschinenbauindustrie und in der Nähe der Separatistenregionen ist 2010 zudem ein riesiges Erdgasvorkommen entdeckt worden: das Yuzivska-Gasfeld. Davon hat Russland selbst zwar genug, doch um weiterhin die Preise in Europa zu diktieren, muss Moskau auch diese Gasquelle kontrollieren. Zudem gibt es Vorkommen von Quecksilber, Kupfer und seltenen Erden in der Ostukraine.

Rohstoffe in der Ukraine.
Rohstoffe in der Ukraine.
Karte: SRDE

Nicht zuletzt ist die Region für Moskau wichtig wegen der Wasserversorgung der Krim, die nur durch Kanäle in diesem Gebiet nachhaltig versorgt werden kann.

Brücke bis Transnistrien?

Fraglich ist, wie weit sich Russland Kriegsziele im Süden der Ukraine setzt: Nachdem Odessa bisher nur aus der Ferne angegriffen worden ist, dürfte es wohl auch noch zu Infanterieattacken auf die Stadt am Schwarzen Meer kommen. Generell wäre Russland daran gelegen, die Ukraine gänzlich vom Schwarzen Meer abzuschneiden, wenn schon ein Sturz der Regierung nicht mehr möglich scheint.

Im Raum schwebt nach wie vor die Angst, Russland könne eine Landbrücke bis nach Transnistrien bauen wollen. Das ist eine separatistische Republik innerhalb von Moldawien. Ukrainische Quellen behaupteten am 6. April, dort würden bereits die Flughäfen vorbereitet, um womöglich russische Luftlande-Divisionen aufzunehmen: Falls Moskau Flugzeuge dorthin entsendet, würden diese abgeschossen, so die Drohung.

Was ist mit dem 9. Mai?

Ukrainische Quellen haben einen Stichtag ins Spiel gebracht, auf den hin Moskau den Krieg beenden wollen könnte: Es geht um den 9. Mai, der in Russland ein Feiertag ist und an dem die Nation den Sieg über Nazi-Deutschland mit Pauken und Trompeten gefeiert wird. Nach Angaben des Geheimdiensts soll die Armee ihre Ziele dann erreicht haben.

Moskau feiert am 9. Mai 2021 den «Tag des Sieges».
Moskau feiert am 9. Mai 2021 den «Tag des Sieges».
AP

Ob das wahr ist oder nicht, lässt sich nicht überprüfen. Das Datum wäre für so ein Ereignis natürlich passend, doch das Ganze bleibt Spekulation, bis es genauere Informationen gibt. Dass die Lücken in der russischen Front innert eines Monats geschlossen und die ukrainische Armee zurückgedrängt werden kann, erscheint fraglich, auch wenn sich Moskaus Soldaten gerade neu formieren.

Denn auch Kiew könnte unter den neuen Vorzeichen die Taktik ändern und zum Gegenangriff übergehen – gerade wenn die Lieferung schwerer Waffen nun zunehmen sollte, wie es der Westen versprochen hat.