Seit 2014 ist Vladimir Petkovic Trainer der Schweizer Nationalmannschaft. Nun droht der Abgang des 57-Jährigen zu Girondins Bordeaux. Wer könnte das schwere Erbe beim SFV antreten? blue Sport hat eine Kandidatenliste erstellt.
Die Anzeichen verdichten sich, dass die Ära Petkovic zu Ende geht. Auch wenn der Zeitpunkt für viele nicht passend scheint (so etwa die Meinung von Redaktionskollege Jan Arnet), muss man sich nun mit allfälligen Nachfolgern befassen. In der Auswahlliste sind nur Kandidaten aufgeführt, welche aktuell gemäss realistischer Einschätzung für den SFV das Format hätten, um Nati-Trainer zu werden. In manchen Fällen sind die Kandidaten bei ihren Klubs aber derzeit besser aufgehoben.
Marcel Koller
Der Zürcher war zuletzt Trainer beim FC Basel (2018 bis 2020). An Koller lag es nicht, dass der Klub ins Schlingern geriet, wie man im Nachhinein feststellen darf. Sein Nachfolger Ciriaco Sforza scheiterte dort kläglich. In seinen zwei Jahren holte Koller immerhin einen Cupsieg und führte den FCB in die Viertelfinals der Europa League. In der Meisterschaft hatte man aber gegen YB jeweils das Nachsehen.
Vor seinem Engagement am Rheinknie war Koller Nationalcoach von Österreich (2011 bis 2017). Nach anfänglicher grosser Skepsis sorgte er spätestens mit der Qualifikation für die EM 2016 für Begeisterung. Mit seiner ruhigen und sachlichen Art konnte er viele ÖFB-Fans für sich einnehmen.
In der Schweiz trainierte er mit St. Gallen und den Grasshoppers – wo er jeweils Meister wurde – auch weitere Teams. Nach dem angekündigten Hitzfeld-Abgang wollte der SFV ihn 2013 verpflichten, Koller verlängerte damals aber den Vertrag in Österreich. Nun ist er frei und auch der Kronfavorit. Dennoch könnte es am Ende auch nicht auf Koller hinauslaufen. So setzt der 60-Jährige nicht auf Spektakel und will ein kontrolliertes Spiel sehen, was teilweise bei Kritikern des Öfteren zu Langweile führte. Ob der Verband nach der Ära Petkovic sich mit diesem Stil anfreunden könnte?
Lucien Favre
Der Romand ist ein begehrter Mann. So soll nicht nur Petkovic, sondern auch Favre zum engsten Kandidatenkreis für den Posten bei Girondins Bordeaux gehört haben.
Doch der frühere Dortmund-Taktgeber nahm sich selber aus dem Rennen und betonte, er werde in diesem Sommer keine Mannschaft übernehmen. Der 63-Jährige gilt als Taktikfuchs und hat bei allen Klubs (Yverdon, Servette, FCZ, Gladbach, Nizza, Dortmund) seinen Stempel aufgedrückt. Mit seiner Detailversessenheit hat er viele Spieler an die Leistungsgrenze gebracht. Sein auf Ballkontrolle angelegtes Spiel ist attraktiv anzusehen.
Die Kommunikation gehört hingegen nicht zu seinen Stärken. So beschwerten sich zuletzt einige Profis öffentlich (Mo Dahoud, Maximilian Philipp) darüber, wie wenig er mit den Spielern redet. Zudem hat er es beim BVB verpasst, einen grossen Titel zu holen. Unter dem Strich würde man mit Favre einen einheimischen Coach mit grossen Fussballsachverstand holen. Nichtsdestotrotz fragt man sich, ob die Konstellation als Nati-Trainer passt. Einerseits hätte er viel weniger Zeit, um seine Vorstellungen dem Team beizubringen, andererseits ist die Kommunikation fast noch wichtiger als in den Klubs.
Mauro Lustrinelli
Keine Probleme mit Kommunikation hat hingegen Lustrinelli. Der Tessiner kommt mit seiner offenen Art in der Öffentlichkeit gut an. Der ehemalige Stürmer ist schon beim SFV angestellt und hat derzeit die Verantwortung für die U21 inne. In den gut zweieinhalb Jahren ist es dem 45-Jährigen dort gelungen, eine verschworene Einheit zu formen, die sich trotz fehlender individueller Extraklasse überzeugend für die EM 2021 qualifiziert hat und nahe an den Viertelfinals war. Im Schlüsselspiel gegen Kroatien hatte «Lustrigoal» aber rückblickend ein schlechtes Händchen bei der Wahl des Personals und verzockte sich.
Für einige nicht überraschend. So bemängeln Kritiker seine fehlende Routine. In der Tat trainierte der ehemalige Internationale (zwölf Länderspiele), welcher auch ein Wirtschaftsstudium im Sack hat, auf Klubebene nur den FC Thun. Und dies auch nur interimistisch für elf Spiele. Seine Wahl wäre sicher ein Wagnis – aber der Mut könnte sich auszahlen.
Martin Schmidt
Der Walliser ist seit Dezember 2020 Sportchef in Mainz. Zusammen mit Sportvorstand Christian Heidel und Trainer Bo Svensson rettete man den Abstiegskandidaten (nach der Hinrunde gleich viele Punkte wie Schalke) dank einer sensationellen Aufholjagd noch souverän.
In Mainz fühlt sich der 54-Jährige pudelwohl. Von 2015 bis 2017 war er dort als Trainer tätig und führte den Klub sogar in den Europapokal. Danach stand er noch in Wolfsburg und Augsburg an der Seitenlinie, wo seine Erfolge bescheidener ausfielen. Mit Schmidt bekäme man einen höchst interessanten Zeitgenossen. Der frühere Extremskifahrer (sieben Kreuzbandrisse) führte einst eine Autowerkstatt und war danach auch in der Modeindustrie tätig. Gemeinsamer Gesprächsstoff mit den Nati-Stars wäre sicher vorhanden. Auch gilt Schmidt als exzellenter Motivator. Nichtsdestotrotz bleibt fraglich, ob sich sein schillerndes Profil mit den Vorstellungen des Verbands deckt.
Jogi Löw
Wenn es nach Berti Vogts geht, soll Löw in die Fussstapfen von Ottmar Hitzfeld treten und zum Karriereende in der Schweiz anheuern. Der 61-Jährige hat wie sein Vorgänger ebenfalls einen starken Bezug zum kleinen Nachbarn. So war er sowohl als Spieler (Schaffhausen, Winterthur und Frauenfeld) sowie als Co-Trainer (Aarau) hierzulande tätig. Viel länger war Löw aber danach mit dem DFB unterwegs. 2006 übernahm er dort den Chefposten – einen schwierigeren Job gibt es im 80-Millionen-Land nicht.
Bei der WM 2014 holte er den Titel – es sollte der Höhepunkt seines Schaffens sein. Danach ging es langsam, aber stetig bergab. Zuletzt scheiterte man an der EM 2021 im Achtelfinale gegen England. Obwohl Löw Deutschland unter dem Strich erfolgreich coachte, begeisterte er weder die Fans noch die Kritiker. Diesen Makel lastet auf ihm. In der Schweiz wäre der Druck naturgemäss schon mal viel kleiner.
Nach eigenen Angaben hätte er zwar Lust, in den Klubfussball zurückzukehren, aber ob er die tägliche Arbeit auf dem Platz so vermisst? Zumindest beim Lohn müsste er Abstriche in Kauf nehmen. In Deutschland verdiente Löw dem Vernehmen nach knapp vier Millionen Euro pro Jahr, rund viermal mehr als Petkovic in der Schweiz. Wo diesbezüglich Löws Schmerzgrenze wohl liegt? Der Reiz, das Potenzial der Schweizer auszuloten, dürfte bei ihm aber sicher ein Faktor sein. Zumal er vielleicht mit der Schweiz neben der kommenden WM allenfalls auch an der EM 2024 in Deutschland teilnehmen könnte. Wenn Löw da mit der Schweiz noch den Gastgeber rauswerfen würde, hätte der in seiner Heimat so gering geschätzte Trainer allen Kritikern das Maul gestopft.
Urs Fischer
Ein neues Land, eine neue Liga und quasi auch eine neue Sprache begegneten ihm, als er nach sieben Jahren als Cheftrainer in der Super League (FCZ, Thun, Basel) 2018 den Sprung ins Ausland wagte und bei Union Berlin anheuerte. Mit den Eisernen gelang ihm gleich im ersten Anlauf das, was seinen Vorgängern verwehrt geblieben war: Der erstmalige Aufstieg in die Bundesliga. Danach hielt man mit dem zweitkleinsten Etat die Klasse. Und letzte Saison gelang sogar mit Platz 7 der Sprung in die Europa Conference League. Vom Fussball-Fachmagazin «11 Freunde» wurde er gar als «Trainer der Saison» ausgezeichnet.
Die Teams von Fischer zeichnet dabei aus, dass sie stets gut organisiert sind. Zusätzlich passt er das Personal und die Taktik jeweils dem Gegner an. Dieser Trend hat auch bei der EM Einzug gehalten. Mit seiner ungekünstelten Art hat Fischer in der deutschen Hauptstadt viele Herzen erobert. Deshalb ist aktuell kein Grund ersichtlich, weshalb der 55-Jährige sein Standing in der Bundesliga trotz der Verlockung des Nati-Postens einfach aufgeben sollte. Nach seiner nicht immer einfachen Zeit in der Schweiz sind die Lobeshymnen sicher eine grosse Genugtuung, welche nicht abklingen sollten. Kurzum: Union passt zu Fischer besser als der SFV.
Gerardo Seoane
Der 42-Jährige gilt als grösstes Trainer-Talent der Szene. Kein Wunder, wenn man einen kurzen Blick auf seine noch junge Trainer-Karriere wirft. Er rückte im Januar 2018 beim FC Luzern von der U21 nach und löste Markus Babbel interimistisch als Cheftrainer ab. Mit nahezu unverändertem Kader führte er den FCL zur zweitbesten Rückrundenbilanz der Liga. Danach führte der schweizerisch-spanische Doppelbürger YB neben einem Cupsieg zu drei Meistertiteln in Serie. In der Champions League bezwang man dabei unter anderem Juventus Turin, im Vorjahr kegelte man in der Europa League Bayer Leverkusen raus. Der Bundesligist erinnerte sich an den starken Auftritt der Berner und offerierte ihm im Sommer gleich einen Dreijahresvertrag.
Der Fokus von Seoane, der als Profi neben seinem Stammklub Luzern unter anderem bei Sion, Aarau und GC tätig war, liegt also sicher in der Bundesliga. Aufgrund seines Alters hat er auch keine Eile, um sein Abenteuer abzubrechen. Der Luzerner wird deshalb seine nächsten Jahre weiterhin im Klubfussball verbringen.