Gaëlle Thalmann startet am Samstag an der EM in England gegen Portugal in ihr drittes grosses Turnier mit der Schweiz. Die Freiburgerin ist auch mit 36 Jahren eine wichtige Teamstütze.
Gaëlle Thalmann sitzt am Donnerstag im Garten des Hotels des Schweizer Nationalteams, vor sich ein Glas Wasser. Nach einem regnerischen Vorabend haben sich die Wolken verzogen, und Leeds präsentiert sich im besten Sommergewand. Ein paar Meter neben Thalmann plätschert ein Springbrunnen, Singvögel zwitschern melodiös, und auf dem hoteleigenen Platz schlendern ein paar Golfspieler über das Green.
Die Idylle auf der Anlage des Oulton Hall Hotels soll ihren Teil dazu beitragen, dass die Schweizer Delegation an der Europameisterschaft in England zwischen Trainings und Spielen optimal abschalten und sich erholen kann.
Auch die Torhüterin musste letzthin mehr Zeit in die Regeneration stecken. Das letzte Vorbereitungsspiel am Donnerstag vor einer Woche im Zürcher Letzigrund gegen England (0:4) verpasste Thalmann, weil sie zuvor im Training von einem vom Pfosten zurückspringenden Ball am Kopf getroffen worden war. Nun trainiert sie aber seit ein paar Tagen wieder, und die Freude auf ihr drittes grosses Turnier im Tor des Schweizer Nationalteams nach der WM 2015 und der EM 2017 steigt quasi stündlich an.
Keine Zeit zum Hadern
Am Mittwoch schaute das Team gemeinsam das Eröffnungsspiel zwischen Gastgeber England und Österreich (1:0). Da habe es bei ihr schon zu kribbeln angefangen, sagt Thalmann. Die 36-Jährige hat in ihrer langen Karriere, die sie zwischenzeitlich nach Italien und Deutschland, im letzten Sommer nach dem Meistertitel mit Servette dann zu Betis Sevilla nach Spanien geführt hat, viel gesehen. Derartige Begeisterung für Frauenfussball jedoch selten. Zu sehen, wie fast 70'000 Menschen im legendären Old Trafford für Stimmung sorgten, habe ihre Vorfreude noch anwachsen lassen, bald schon auf dem Feld stehen zu dürfen. «Wir haben lange gewartet, um in vollen Stadien mit toller Atmosphäre zu spielen. Ich freue mich, das erleben zu können.»
Nach der Vorbereitungspartie in Erfurt gegen den achtfachen Europameister Deutschland, in der sich die Schweiz beim 0:7 in allen Belangen überfordert präsentiert hatte, blieb auch Thalmann nicht vor Kritik gefeit. Sie hätte es in ihrer Karriere aber nicht auf bisher 96 Länderspiele gebracht, würde sie nach missratenen Spielen lange hadern und an sich selbst und ihren Qualitäten zweifeln.
Zusammen mit Torhütertrainer David Gonzalez hat sie das Geschehene genau analysiert. Der 35-jährige Genfer, der seit April zum Staff der SFV-Auswahl gehört, sagt, einer Spielerin mit der Erfahrung Thalmanns müsse er nichts erklären. Es gehe vielmehr darum, Details zu perfektionieren. Auch bei Cheftrainer Nils Nielsen geniesst sie volle Rückendeckung. Der Däne meint, «Gaga» sei mit ihrer Kommunikation enorm wichtig für die Stabilität, könne sie doch dafür sorgen, dass das Team immer gut organisiert sei.
Druck, der motiviert
Entsprechend lässt sich Thalmann ob dem Auftritt gegen die Deutschen nicht aus dem Konzept bringen. Sie bleibt gelassen. Sie weiss, wie schnell das Momentum vom Guten ins Schlechte kippen kann, kennt aber auch das Gegenteil, nicht zuletzt im Kontext dieser EM: Hätte sie im Barrage-Rückspiel im April 2021 gegen Tschechien in Thun (3:2 n.P.) nicht zwei Penaltys abgewehrt, würde die Schweiz nun kaum ihrem zweiten Auftritt am kontinentalen Wettbewerb entgegenfiebern.
Thalmann sagt: «Wir haben in den letzten Jahren gezeigt, wie wir schwierige Situationen meistern und eine Reaktion zeigen können.» Die erste Chance dazu bietet sich am Samstag um 18 Uhr, wenn die Schweiz im Leigh Sports Village auf Portugal trifft. Es ist die Partie, welche Thalmann unumwunden als «die wichtigste» bezeichnet.
«Wenn wir eine Chance haben wollen, die Gruppenphase zu überstehen, müssen wir dieses Spiel gewinnen», sagt sie und wiederholt damit, was im Schweizer Lager seit Feststehen des definitiven Spielplans schon oft betont worden ist. Die Portugiesinnen, die nach dem Ausschluss Russlands nachrücken konnten, hätten in der Offensive zwar schnelle Spielerinnen, defensiv seien sie aber anfällig, findet Thalmann, gerade bei Standardsituationen, auf welche die Schweizerinnen deshalb besonders den Fokus gelegt haben in den letzten Trainingseinheiten.
Es ist naheliegend, ist der Erfolgsdruck in diesem Spiel höher, als wenn die Schweizerinnen ihr EM-Abenteuer gegen Titelverteidiger Niederlande oder den WM-Dritten Schweden eröffnet hätten. Für Thalmann ist dies indes kein Grund, sich zu verkrampfen. Sie sagt: «Klar stehen wir unter Druck, aber ich freue mich darauf. Dieser Druck motiviert mich.»
Es gibt noch andere Aspekte, welche die Motivation der Freiburgerin, die einst beim FC Bulle mit Fussballspielen angefangen und 2007 im Nationalteam debütiert hat, positiv beeinflussen. Ihre beiden Nichten werden sie erstmals an einem grossen Turnier spielen sehen und von der Tribüne aus anfeuern. Und dann könnte da noch ein spezielles Jubiläum auf sie zukommen: Bestreitet sie alle Gruppenspiele, wäre ein allfälliger Viertelfinal ihr 100. Länderspiel. Und dann gäbe es wohl nicht mehr ein idyllisches Plätschern, sondern ein rauschendes Fest.
sda