Alfred Escher Alfred Escher – der Wirtschaftsheilige der Schweiz

David Eugster

20.2.2019

1970 musste Escher für den Ausbau des Bahnhofplatzes kurz weichen: Links sieht man die Drachen, rechts ihren Beherrscher.
1970 musste Escher für den Ausbau des Bahnhofplatzes kurz weichen: Links sieht man die Drachen, rechts ihren Beherrscher.
Bild:  Kesstone

Vor 200 Jahren kommt Alfred Escher auf die Welt. Ohne ihn hätte die Schweiz weder ETH noch Credit Suisse, und auch das Bahnnetz würde wohl anders aussehen –  doch Escher hatte auch dunkle Seiten.

Wer die Zürcher Bahnhofstrasse Richtung Hauptbahnhof schlendert, trifft den starren Blick eines Mannes mit Rauschebart: Auf einem Sockel mitten im Getümmel steht Alfred Escher – der heute vor 200 Jahren geboren wurde. An der Bahnhofswand hinter ihm singt ein Chor steinerner Frauenfiguren, die sinnbildlich für die Telegrafie, die Eisenbahn und die Schifffahrt stehen, das Lied des Fortschritts. Und unter ihm bändigen Jünglinge zwei Drachen, sie verkörpern nichts weniger als die Bezwingung der Natur.

Wer ist dieser Mann, der seit über einem Jahrhundert hoffnungsvoll von seinem Sockel ins luxuriöse Einkaufsparadies starrt? Ohne Escher sähe Zürich anders aus. Er steht hinter dem Aufbau der ETH, die in Sichtweite seines Denkmals über der Stadt thront, er hat die Credit Suisse am Paradeplatz gegründet, auch das Eisenbahnnetz, das vom Hauptbahnhof abgeht, kann in grossen Teilen ihm als Verdienst angerechnet werden – und den Ausbruch des Gotthard-Eisenbahntunnels hat er ebenso vorangetrieben.

Dennoch war und ist Escher ein Mann von durchmischtem Ruf: Als das Denkmal 1891 enthüllt wurde, musste die Armee es vor aufgebrachten Arbeitern schützen. Diese sahen nicht ein, warum man ihm, einem Vertreter des Industriekapitalismus, ein Denkmal auf öffentlichem Grund widmete – nicht aber den fast 200 im Gotthardmassiv verunfallten Arbeitern. Zugleich kriegen Wirtschaftsvertreter heute fast feuchte Augen, wenn sie vom ungehinderten Durchsetzungsvermögen des Wirtschaftspioniers sprechen: Alfred Escher hat sich seit dem Aufschwung des Wirtschaftsliberalismus zum Säulenheiligen der Wirtschaftselite emporgeschwungen.

Aufstieg eines Begüterten

Ein Tellerwäscher war Escher nie: Er wuchs in äusserst begüterten Verhältnissen auf. Sein Vater hatte in den USA mit Spekulationen und unter anderen, wie letzthin bekannt wurde, mit dem Betrieb von Sklaven-Plantagen, ein Vermögen gemacht. Seine Mutter war mit den Adelsfamilien des Ancien Regime verwandt und verströmte einen aristokratischen Charme in der Villa Belvoir am Zürichsee. Bevor er das Gymnasium besuchte, hatte Escher zu Hause Privatunterricht erhalten.

Bereits mit 20 Jahren mischte er in der Politik mit, als er gegen die dominierenden konservativen Kräfte für die Freiheit der Universität kämpfte. Er schloss sich der radikal-liberalen Bewegung, dem Vorgänger der heutigen FDP, an, die massgeblich war für die Gründung des Bundesstaates 1848. Bereits mit 25 Jahren wurde Escher in den Grossen Rat des Kanton Zürichs gewählt, drei Jahre später 1818 wurde er Regierungsrat, zuständig für die Bildung. In diesem Amt reformierte er die Zürcher Gymnasien, die bis dahin stark auf Griechisch und Latein ausgerichtet waren. Schreibübungen in Deutsch wurden Pflicht, Französisch und die naturwissenschaftlichen Fächer bekamen mehr Gewicht.

Ein weiteres Projekt, an dem er mitarbeitete, war die Schaffung einer nationalen Akademie, wie man sie aus anderen europäischen Staaten kannte. Die Gründung des Polytechnikums, der späteren Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH), im Jahr 1855 war Eschers liebstes Projekt – hier wurden fortan die Ingenieure für die fortschrittliche Schweiz ausgebildet, die Escher vorschwebte.

Eisenbahn-Baron und Bankengründer

Nach der Gründung des Bundesstaates 1848, an dessen demokratischer Verfassung Escher ebenfalls mitgewirkt hatte, gab es politisch genug zu feiern, zudem wuchs die Schweiz langsam zu einem funktionierenden Handelsraum zusammen. Doch wirtschaftlich stand das Land schlecht da. Bei der Infrastruktur drohte man, den Anschluss an Europas Industrialisierung zu verlieren – wörtlich: Denn man konnte keinen Anschluss an das europäische Schienennetz gewährleisten.

Um 1850 lagen in Grossbritannien bereits über 10‘000 Kilometer Schiene, in Deutschland an 5’850, in Frankreich 3’000 und in Italien immerhin deren 620. In der Schweiz erfreute man sich dagegen noch immer an einer Eisenbahn, die 23 Kilometer von Zürich nach Baden und zurück fuhr, um dort die namensgebende Spezialität «Spanische Brötli» zu holen, wie eine beliebte Erzählung besagt.

Alle Wege führten nach Zürich

Escher trieb den Eisenbahnbau entscheidend voran, seine Nordost-Bahn betrieb die Strecken Zürich-Winterthur-Romanshorn, Winterthur-Schaffhausen, Baden-Brugg-Aarau und einen Anschluss nach Waldshut, Deutschland – und ermöglichte damit Zürichs ökonomischen Aufstieg durch die beste Vernetzung: Alle Wege führten nun nach Zürich. Bürokratische Reibungsverluste gab es keine: Manchmal unterschrieb Escher Anträge, die er als unternehmerischer Eisenbahnbaron stellte, in seiner Funktion als Regierungsrat und Nationalrat gleich selbst – Escher stellte Escher Bewilligungen aus.

Als deutlich wurde, dass für Grossprojekte wie den Eisenbahnbau enorme Summen Kapital gebraucht wurden, die man bis anhin nur im Ausland beschaffen konnte, gründete Escher kurzerhand die Schweizerische Kreditanstalt, die heutige Credit Suisse. Im Gegensatz zu den Privatbanken war sie willig und anders als die Kantonalbanken fähig, die für die Industrialisierung der Schweiz nötigen Kredite zu gewähren. Die Aktionäre überrannten das Gebäude am Paradeplatz geradezu: Laut dem Credit-Suisse-Historiker und Escher-Biografen Joseph Jung schleppten sie sackweise Geld und Gold an, um Aktien zu zeichnen.

Zar Alfred I

Als Verwaltungsrat der Kreditanstalt wuchs Eschers Einfluss noch weiter, auch wenn er 1855 auf sein Amt als Regierungsrat verzichtete. Seine Macht beruhte auf einer Verbindung seiner politischen Ämter mit seiner Rolle als Wirtschaftskapitän, aber insbesondere auch auf seinen Netzwerken. Eine seiner Plattformen war die «Akademische Mittwochgesellschaft», die in der Zeit vor der Gründung des Bundesstaates 1848 entstanden war – dies mit dem Zweck des «sofortigem gemeinschaftlichem Einwirken in die Verhältnisse des Staats und der Kirche».

Ab den 1860er Jahren widersetzte sich die Demokratische Bewegung, hier ihr Wortführer Friedrich Locher(rechts),  «Zar» Alfred Escher.
Ab den 1860er Jahren widersetzte sich die Demokratische Bewegung, hier ihr Wortführer Friedrich Locher(rechts),  «Zar» Alfred Escher.
Bidl: Stadtarchiv Zürich

Hier delegierte Escher die Geschicke des Kantons Zürichs. Die Gesellschaft war hervorgegangen aus einem Kreis von Freunden, die alle eine freisinnige Überzeugung teilten – und die Mitgliedschaft in der Studentenverbindung Zofingia, der Escher seit dem Gymnasium angehörte.

Ein politischer Gegner, der Konservative Philipp Anton von Segesser, schilderte Eschers Umgang folgendermassen: «Um ihn scharten sich die Männer der hohen Finanz und Industrie, die ihre Nase hoch trugen und in den feinen Genüssen des Lebens schwelgten, jene modernen Feudalherren, welche bei nicht geringerem Appetit als der ihrer Vorfahren auf den Schlössern war, sich den Anstrich von Wohltätern zu geben.»

Dass die neue liberale Elite zunehmend dem alten, mit dem Bundesstaat endgültig überworfen geglaubten Ancien Regime glich, fiel auch anderen auf: Escher wurde zur Hauptzielscheibe von Kritikern, die ihn als «Zar aller Zürcher und Hauptdrahtzieher im schweizerischen Athen» sahen. Die Opposition gegen «Alfred I», wie man Escher spöttisch nannte, sammelte sich, bis schliesslich zum Angriff auf das so genannte «System Escher» geblasen wurde. Beschleunigend wirkte, dass der Kanton Zürich in eine wirtschaftliche Baisse geriet, die Arbeitslosigkeit zunahm und 1867 auch noch eine Choleraepidemie ausbrach in Zürich, die gerade die unteren Schichten am schlimmsten traf.

«Dämonisch seltsame» Demokraten

Der Schriftsteller Gottfried Keller nannte die Demokratische Bewegung, die Mitte der 1860er-Jahre Erfolge mit ihrem Kampf gegen Escher und sein Regiment feierte, eine «dämonisch seltsame Bewegung», aus liberaler Sicht handelte es sich bei ihren Angriffen um pure «Hetze».

Doch die damals gestellten Forderungen erscheinen heute mehr als vernünftig: Im Dezember 1867 versammelten sich an verschiedenen Orten im Kanton Zürich 20'000 Menschen bei strömendem Regen und forderten direkte Mitsprache der Stimmbevölkerung durch Referendum und Initiativrecht. Ein Weggenosse Echers spottete in einem Brief wegen des Regens, der Himmel hänge voller Sympathie. Doch die begossenen Pudel waren nach 1868 die Liberalen: Die Demokraten eroberten in Zürich das Parlament, und mit grosser Mehrheit wurde eine kantonale Verfassung angenommen, die in grossen Teilen bis heute gilt.

Escher war damit zwar keineswegs am Ende. Er spielte noch eine entscheidende Rolle im Bau des Gotthardtunnels – woran beim Denkmal beim Zürcher Hauptbahnhof noch ein Fels aus Bronze erinnert. Doch in seiner Heimat Zürich erhielt er seinen einstigen Glanz nie mehr zurück.

Erst nach seinem Tod 1882 kam die Würdigung: Man entschied, ihm ein Denkmal bauen zu lassen – vom gleichen Bildhauer, der einige Jahre später in Altdorf Wilhelm Tell bilden sollte. Mit dem Denkmal vor dem Hauptbahnhof sollte, so meinte das Komitee, einem gedacht werden, der immer dem Fortschritt gedient habe, der nur «dann zerstört, wenn die alten Gebilde fallen müssen, damit zum Glück des Vaterlandes, zum Wohl der Menschheit Raum frei wird, für das Schönere und Bessere». Vermutlich gehörte Escher als autokratischer Pionier Ende des Jahrhunderts selbst zu jenen Dingen, die Raum schaffen mussten für eine neue Welt.

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