Venezuela Miss-Schönheitswahlen als Ausweg aus der Armut in Venezuela

Fabiola Sanchez, AP

9.7.2018

Tausende junge Frauen in Venezuela träumen von einem Leben als Schönheitskönigin – nicht zuletzt, weil die katastrophale Wirtschaftslage kaum noch Alternativen bietet. Die beliebten Wettbewerbe verraten zudem viel über die Geschlechterrollen im Land.

In einem winzigen Haus mit undichtem Dach zeigt Johandrys Colls stolz ihre Trophäen: neun Schärpen aus feinem Stoff und zwei Kronen mit Plastikjuwelen. Auf lokaler Ebene war die 16-Jährige schon bei etlichen Schönheitswettbewerben erfolgreich. Doch die Venezolanerin will noch mehr. Sie träumt von einer internationalen Karriere. Der Laufsteg erscheint ihr der einzige Ausweg aus dem wirtschaftlichen Elend ihrer Heimat.

«Diese Schärpen stehen für mich für eine grosse Leistung», sagt der gertenschlanke Teenager mit braunen Augen. Sie legt ihr langes dunkles Haar von der einen Seite zur anderen und sagt: «Ich habe erreicht, was ich mir vorgenommen habe.» Ihre Eltern, ein Metzger und eine Lehrerin, unterstützen sie so gut sie können. Trotz eines bescheidenen Einkommens haben sie ihre Tochter bei einer der renommiertesten Model-Schulen Venezuelas angemeldet.

Der Weg ist nicht ohne Risiken. Teure Kleider und kosmetische Operationen sind für die meisten Bewohner des lateinamerikanischen Landes, in dem die Inflation keine Grenzen zu kennen scheint und viele Staatsangestellte umgerechnet kaum drei Euro im Monat verdienen, ein unerreichbarer Luxus. Und neue Enthüllungen haben gezeigt, wie es bei der Wahl zur «Miss Venezuela» in den vergangenen Jahren hinter den Kulissen zugegangen ist: Teilnehmerinnen erhielten die erforderliche Ausstattung nach eigenen Angaben von reichen Männern – im Austausch für Sex.

Der Skandal ging zwar durch die Medien. Doch er änderte nichts an den Träumen von so vielen jungen Frauen. In Scharen strömen sie weiter zu den Wettbewerben. «Ich hoffe, dass meine Tochter von den Werten und von der Bildung, die ich ihr mitgebe, profitieren wird», sagt Colls Mutter Lisbeth Linarez. «Damit sie sich, wenn sie eines Tages in eine schwierige Situation geraten sollte, zu wehren wissen wird.»

Miss-Wahlen haben in Venezuela einen enormen Stellenwert. Schönheitsköniginnen zählen neben Erdöl schon fast zu einem der wichtigsten «Exporte» des Landes. Sieben Venezolanerinnen konnten bereits den Titel «Miss Universe» gewinnen. Die Fernsehübertragungen der nationalen Miss-Wahlen erreichten zuletzt meist ein Millionenpublikum. Für viele der Siegerinnen waren die Wettbewerbe ein Sprungbrett für eine weiterführende Karriere – als Schauspielerin, als TV-Moderatorin oder gar als Politikerin.

Die akute Wirtschaftskrise scheint die Begeisterung des Landes für Schönheitswettbewerbe fast noch verstärkt zu haben. «Seit ich sechs Jahre alt bin, ist es mein Traum, einmal "Miss Venezuela" zu werden», sagt die Jurastudentin Oxlaniela Oropeza am Rande eines Castings, bei dem aufwendig geschminkte junge Frauen in hohen Schuhen an einer Jury entlang stolzieren. Der jüngste Skandal spiele für sie keine Rolle, betont sie. «Meine Werte sind intakt und niemand kann mir das nehmen.»

Der «König» des Geschäfts um die Inszenierung der weiblichen Schönheit in Venezuela heisst Osmel Sousa. Fast vier Jahrzehnte organisierte er die nationalen Miss-Wahlen. Nach den vor allem im Internet verbreiteten Vorwürfen von einigen ehemaligen Teilnehmerinnen trat Sousa im Februar zurück. Gleichzeitig streitet er jedoch ab, an der Vermittlung von «Sponsoren» für Kandidatinnen beteiligt gewesen zu sein. Und mehrere Frauen haben sich zu seiner Verteidigung ausgesprochen.

Dennoch legen die vielen veröffentlichten Schilderungen nahe, dass Arrangements zwischen Kandidatinnen und wohlhabenden Männern lange Zeit gängige Praxis waren. Patricia Velásquez, die 1989 an der Miss-Wahl teilnahm, sah sich nach eigenen Angaben gezwungen, ein Verhältnis mit einem älteren Mann einzugehen, der ihr eine Wohnung in der Hauptstadt Caracas verschafft und die Kosten für Brustimplantate übernommen hatte. «Ich habe schnell gelernt, dass ich einen "Sponsor" finden und mich prostituieren musste, um bei der Wahl eine Chance zu haben», sagt sie. «Nicht alle mussten so weit gehen, aber für mich war das die Realität.»

Wenn es irgendeine Art von Fehlverhalten gegeben habe, sollten die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, betonte Sousa kürzlich in einem Interview mit der Nachrichtenagentur AP. Da die bisherige Miss-Wahl aufgrund des öffentlichen Drucks bis auf Weiteres ausgesetzt wurde, hat Sousa einen neuen Wettbewerb ins Leben gerufen.

Anders als etwa bei der Wahl zur «Miss America», bei der nach den gesellschaftlichen Debatten der vergangenen Monate künftig auf ein «Schaulaufen im Bikini» verzichtet werden soll, setzt Sousa auch weiterhin auf viel nackte Haut. Das Begutachten der Frauen im Bade-Dress sei «praktisch der wichtigste Teil» des Wettbewerbs, sagte er beim Gespräch in einem noblen Restaurant in Caracas. Es gehe dabei um die Demonstration von Stil, Körperbau und Gesundheit.

Kritiker sehen das anders. Für Esther Pineda, die sich als Wissenschaftlerin mit der Rolle von Frauen in der Gesellschaft beschäftigt, ist die Beliebtheit von Miss-Wahlen in Venezuela ein Beleg dafür, wie zutiefst sexistisch die Kultur des Landes ist. «Äusserliche Schönheit wird als sehr wichtig betrachtet», sagt sie. «Ihr wird ein grösserer Wert beigemessen als jeder anderen Eigenschaft.»

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