Steigende Zahl von Rudeln Ist der Wolf für den Menschen eine Gefahr?

dpa/tali

28.4.2019

Wer hat Angst vor dem bösen Wolf? Und wie böse ist er eigentlich?
Wer hat Angst vor dem bösen Wolf? Und wie böse ist er eigentlich?
Keystone

Die Rückkehr der Wölfe wird hitzig diskutiert, von Beginn an. Sie reissen Schafe und andere Nutztiere. Sollten sich auch Menschen vor den Tieren fürchten?

Seit 1995 sind sie zurück in der Schweiz: Wölfe, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts in Westeuropa fast vollständig ausgerottet wurden. Seitdem haben sich die hierzulande (noch) streng geschützten Tiere rasant ausgebreitet: Rund 100 Rudel sollen mittlerweile in den Alpenländern leben, die grosse Mehrheit in Frankreich und Italien. Doch auch in der Schweiz wurden bereits vier Rudel nachgewiesen.

Die Tiere zeigten sich in ihren zurückeroberten westeuropäischen Lebensräumen weit weniger scheu als von manchen Experten erwartet. Immer wieder einmal traben sie am helllichten Tag durch Siedlungen, sogar Rinder und Pferde werden gerissen. In Norddeutschland wurde im vergangenen November ein Mann in die Hand gebissen. Es sei ein Wolf gewesen, sagte er, eine DNA-Analyse deutete jedoch auf einen Hund hin.

Das Calandarudel ist eines der vier Wolfsrudel, die in der Schweiz bisher nachgewiesen wurden.
Das Calandarudel ist eines der vier Wolfsrudel, die in der Schweiz bisher nachgewiesen wurden.
Keystone / Amt für Jagd und Fischerei GR

Grosser, böser Wolf?

Vor allem auf dem Land ist nach Tierrissen die Sorge gross, dass es in absehbarer Zeit zu einem – möglicherweise tödlichen – Wolfsangriff auf einen Menschen kommen könnte. Experten sind sich allerdings weitgehend einig, dass das sehr unwahrscheinlich ist, wenn auch nicht völlig ausgeschlossen. «Wenn wir in die Länder schauen, wo der Wolf schon immer war, können wir beruhigt sein», sagt Experte und Buchautor Frank Fass. «Übergriffe von Wölfen auf Menschen waren dort bisher extrem selten.» Fass leitet das Wolfcenter im norddeutschen Dörverden.

Einen guten Überblick über Wolfsangriffe gibt eine Studie des Norwegischen Instituts für Naturforschung (NINA) aus dem Jahr 2002, die dokumentierte Wolfsattacken auf Menschen ausgewertet hat. Demzufolge wurden in Europa zwischen 1950 und 2000 neun Menschen getötet – bei geschätzten 10'000 bis 20'000 Wölfen am Ende dieser Zeitspanne. «Fünf der Wölfe waren tollwütig, bei den anderen Fällen wurden Kinder in Spanien zum Opfer», erklärt Fass. «In zwei der Fälle ist zu befürchten, dass es sich um Beuteverhalten der Wölfe gehandelt hat.»

Insgesamt haben die NINA-Forscher 59 Attacken in dem Zeitraum gefunden, 38 davon in Zusammenhang mit Tollwut. «Die Tollwut wurde mittels grossflächiger Impfkampagnen zurückgedrängt und gilt in der Schweiz seit rund 20 Jahren als ausgerottet», weiss die «Gruppe Wolf Schweiz» auf ihrer Webseite zu beruhigen. «Auch eine erneute Ausbreitung dieser Krankheit, wie sie teilweise in anderen Ländern festgestellt wird, kann in der Schweiz durch diese bewährte Methode verhindert werden.»

Seit Ausrottung der Tollwut keine Angriffe mehr

Die Schweiz wurde in der Studie nicht gesondert betrachtet, wohl aber ihre Nachbarländer: In Italien wurde seit dem Zweiten Weltkrieg keine Wolfsattacke mehr dokumentiert, in Frankreich seit dem Ersten Weltkrieg.

Bei den deutschsprachigen Nachbarn liegen die letzten Fälle sogar noch weiter zurück: «Der NINA-Studie ist aus den vergangenen drei Jahrhunderten kein tödlicher Wolfsangriff in Deutschland und Österreich bekannt», weiss Fass. Die letzte tödliche Attacke eines wildlebenden Wolfes auf einen Menschen dürfte mehrere Jahrhunderte zurückliegen. «Im 17. Jahrhundert haben tollwütige Wölfe während des Dreissigjährigen Krieges Menschen gebissen, die dann an der Krankheit starben.»

In Delmenhorst im norddeutschen Bundesland Niedersachsen wurde allerdings 1977 ein sieben Jahre alter Junge von einem Wolf getötet, der einige Tage zuvor bei einem Transport entkommen war. «Das ist ein Sonderfall, weil es kein wildlebender Wolf, sondern ein ausgebrochenes Tier war», betont Fass. Der Wolf wurde erschossen.

Schätzungsweise 40 Wölfe leben in der Schweiz.
Schätzungsweise 40 Wölfe leben in der Schweiz.
Keystone

«Der Wolf passt in die heutige Kulturlandschaft»

Die Buchautorin und Fachjournalistin Elli H. Radinger warnt vor Panikmache. Wolfseltern brächten ihrem Nachwuchs bei, was sichere Nahrung sei. «Wir bewegen uns anders, als ihre ‹normale› Beute: Wir laufen selbstbewusst und vor allem aufrecht», erklärt sie. «Auch Bären richten sich manchmal auf, und Wölfe meiden Bären.» Durch Tollwut seien Menschen früher angegriffen worden, bestätigt sie. «Allerdings ist diese Krankheit in Mitteleuropa längst ausgerottet.»

Eckhard Fuhr hat in seinem Buch «Rückkehr der Wölfe» auch historische Aspekte untersucht. Erfahrungen früherer Jahrhunderte müssten relativiert werden, sagt er. «Wir haben ganz andere Bedingungen als zu Zeiten der Ausrottung des Wolfes vor 150 bis 200 Jahren.» Für den Wolf sehe es heute besser aus. «Dank der intensiven Landwirtschaft haben wir extrem hohe Bestände an wildlebenden Huftieren, die Jäger nennen das Schalenwild.» Es gibt heute laut Fuhr insgesamt mehr Waldflächen, die Wölfe haben bessere Rückzugsmöglichkeiten, viel weniger Menschen arbeiten in der Landwirtschaft. «Der Wolf passt also sehr wohl auch in die heutige Kulturlandschaft», lautet Fuhrs Fazit.

Skepsis bei den Jägern

Ein wenig skeptischer ist Torsten Reinwald, Sprecher des Deutschen Jagdverbands. «Der Wolf hat keine natürliche Scheu vor dem Menschen, er ist ein anpassungsfähiger Allesfresser», betont er. Der Wolf müsse sich vom Menschen und den Nutztieren fernhalten, sonst klappe es nicht mit dem Zusammenleben. «Erfahrungen aus Norwegen, Schweden oder Nordamerika helfen uns nur bedingt», meint Reinwald, da diese Länder nicht so dicht besiedelt seien. «In drei Jahren wird sich der Wolfsbestand verdoppelt haben, wie es weitergeht mit Mensch und Wolf bleibt offen.»

Frank Fass ist optimistisch. «Wir haben mittlerweile mehr als 70 Rudel in Deutschland, das lässt mit Paaren und Einzelgängern sowie umherwandernden Jährlingen auf bundesweit ungefähr 1000 Tiere schliessen», sagt er. In der Schweiz dürften es nach letzten Schätzungen rund 40 Wölfe sein. «Dabei hat es keinen einzigen nachgewiesenen Wolfsangriff auf Menschen gegeben, obwohl wir leichte Beute wären», meint er. «Aus den Erfahrungen der letzten 20 Jahre in Deutschland ist nicht zu erkennen, dass sich das ändert, auch wenn der Wolf hier nicht bejagt wird.» Doch auch für Fass ist klar: «Wenn einzelne Tiere doch auffällig gegenüber Menschen werden, müssen sie vergrämt und notfalls sogar getötet werden.»

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