Zurücktretende Juso-Präsidentin Tamara Funiciello: «Es gibt auch innerhalb der SP Sexismus»

Von Silvana Guanziroli

7.5.2019

Tamara Funiciello spricht gerne heikle Themen an. 
Tamara Funiciello spricht gerne heikle Themen an. 
Keystone

Sie tritt lautstark für ihre politischen Anliegen ein. Damit rückt Juso-Präsidentin Tamara Funiciello ins Visier wüster Drohbriefschreiber. In der Rubrik «Jetzt mal ehrlich» erklärt die überzeugte Feministin, warum sie das nicht von ihrem Kampf abhält.

Man hasst oder man liebt sie. Kaum eine Politikerin in der Schweiz hat in den letzten Jahren so polarisiert wie die im August scheidende Juso-Präsidentin Tamara Funiciello. Seit ihrer Aktion mit brennenden BHs im Jahr 2017 ist die 29-jährige Sozialistin im ganzen Land bekannt. 

Jetzt plant die Bernerin mit italienischen Wurzeln den Sprung ins Bundeshaus. Vor der Nationalratswahl im Oktober spricht sie im Bluewin-Interview Klartext. 

Frau Funiciello. Sie sind wütend. Das sagen sie gerne, und sie sagen es mit viel Überzeugung. Wut ist aber nicht immer der beste Ratgeber. 

Da mögen Sie recht haben. Doch meine Wut ist mein Antrieb, daraus schöpfe ich meine Energie. Ich habe schon früh gelernt, sie zu nutzen, ohne dass sie mich beherrscht oder auffrisst. Und abgesehen davon: Ich bin doch zu Recht empört, wenn ich höre, dass über eine Million Menschen in der Schweiz armutsgefährdet sind oder ich weiss, dass täglich auf dem Mittelmeer Menschen sterben und wir einfach nicht darüber sprechen. Ich für meinen Teil verstehe jene Personen nicht, die nicht empört sind.

Drei Jahre waren sie an die Spitze der Schweizer Jungsozialisten. Im August geben Sie ihr Präsidium ab. Warum zum jetzigen Zeitpunkt?

Ich bin einfach ein Juso-Grossmami, das sieht man vielleicht von aussen nicht unbedingt. Aber wir haben mittlerweile Mitglieder mit Jahrgang 2008. Da liegen einfach Welten dazwischen. Schauen Sie, es gibt innerhalb der Juso einen Gruppenchat, in dem man sich schon lustig darüber macht, wie ich als «alte Frau» quasi die Social-Media-Kanäle nutze. Als ich davon erfuhr, musste ich lachen. Denn die nächste Generation hat recht. Was ich damit sagen will: Eine Jungpartei muss dynamisch bleiben. Dazu gehört auch der Wechsel an der Spitze. Und es stehen wirklich gute Kandidatinnen und Kandidaten für die Nachfolge bereit.

Es sind mehrere Kandidatinnen im Gespräch für das Amt. Wer ist ihre Favoritin?

Ganz ehrlich: Ich habe keine Favoritin. Ich bin einfach stolz darauf, dass es so viele junge Frauen gibt, die bereitstehen. Dieser Frauenerfolg von heute, ist die Folge der Frauenförderung von gestern, das zahlt sich jetzt aus. Mit dieser weiblichen Personaldichte haben wir eine luxuriöse Ausgangslage, das kann nicht jede Jungpartei einer Bundesratspartei behaupten. Natürlich gibt es gute männliche Kandidaten. Aber ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich lieber eine Frau als Nachfolgerin hätte. Ich war die erste, und es wäre gut, wenn es noch ein Paar weitere Frauen auf der Position geben würde.

Sie hatten eine extreme Medienpräsenz während ihrer Amtszeit. Es gab viel Kritik und Hass. Ist nicht das auch ein Grund für Ihren Rücktritt?

Nein. Und mir ist auch wichtig, dass man das betont. Sonst würde ich diesen Hatern ja recht geben. Dann hätten sie gewonnen. Ich habe diesen Rücktritt schon lange geplant. Von Anfang an stand für mich fest, 2019 ist Schluss. Ich wollte aber unbedingt noch den Frauenstreiktag am 14. Juni mitnehmen. Danach muss die neue Parteiführung die Weichen für die Juso-Zukunft stellen.

Trotzdem, diese Angriffe gehen sicher nicht spurlos an einem vorbei. Wie sind sie damit umgegangen?

Eigentlich haben diese Hater keine Plattform verdient. Aber es ist wichtig darüber zu sprechen, damit diese Form der Gewalt aufhört. Ich konnte während der ganzen Zeit auf ein gutes Netzwerk zählen, das mich sehr gut unterstützt hat, in einer Zeit, wo es wirklich heftig war. Ganz wichtig scheint mir hier zu betonen: Kritik ist legitim, jeder soll kritisieren dürfen. Wenn Kritik aber nicht mehr auf die Inhalte zielt, sondern auf die Person, geht es zu weit. Meinen Körper, meine sexuelle Orientierung oder meine Herkunft sind nicht entscheidend. Und was überhaupt nicht geht, sind sexuelle Belästigungen und Drohungen in jeglicher Form. So könnte ich fast schon eine Galerie von Penisbildern machen, die man mir in den letzten Monaten zugeschickt hat. Effektiv eine Grenze überschritten wurde aber, als man mir mit Vergewaltigung drohte. Völlig inakzeptabel und gefährlich sind auch die Briefkastenanschläge von letzter Woche. Mein Ziel ist es, dass keine Frau mehr Gewalt, in welcher Form auch immer, erleben muss. Und dafür braucht es strukturelle Anpassungen.

Wären Sie weniger angegriffen worden, hätten sie die gleichen Aussagen als Mann getätigt? Was denken Sie?

Das ist eine sehr spekulative Frage, weil ich nun mal kein Mann bin. Aber wir haben festgestellt und lassen das auch in mehreren Masterarbeiten untersuchen, dass es tatsächlich Unterschiede gibt. Im Vergleich zu meinen Vorgängern sind die Anfeindung in der Qualität und in der Quantität deutlich stärker, das können wir bereits beziffern. 

Diese BH-Aktion hat Sie auf einen Schlag zur Zielscheibe gemacht. Hat sich das rückblickend gelohnt.

Ja, offensichtlich. Für mich ist bis heute unverständlich, warum das Leute dermassen stört. Ich habe diverse Kritiker im Nachgang darauf angesprochen und bekam erschreckende Antworten. So ist die Werbung eines Unterwäscheherstellers, der Models zu Objekten degradiert, definitiv höher angesehen, als ein Bild von Frauen, die aus einer selbständigen Idee heraus eine Aktion machen, von der sie überzeugt sind und mit der sie gegen eine Ungerechtigkeit demonstrieren.

Mit der BH-Verbrennungsaktion wollten die Juso auf den Women's March im März 2017 aufmerksam machen. Die Märsche entstanden als Protestaktion im Januar 2017 in den USA als Protest gegen US-Präsident Donald Trump.
Mit der BH-Verbrennungsaktion wollten die Juso auf den Women's March im März 2017 aufmerksam machen. Die Märsche entstanden als Protestaktion im Januar 2017 in den USA als Protest gegen US-Präsident Donald Trump.
zvg

Die Reaktionen zeigen, wie es um die Gleichstellung der Frau steht. Die Gesellschaft hat ein sehr klares Bild davon, wie eine Frau sein soll. Wenn sie aus diesem Rahmen fällt, wenn sie zu laut ist oder nicht so aussieht, wie sie ausschauen sollte, dann spürt sie den gesellschaftlichen Druck. Frauen werden immer noch massiv kontrolliert, sie werden angeschaut und müssen sich diesem Blick fügen. Darauf habe ich einfach keine Lust mehr. Und genau deshalb war diese Aktion extrem wichtig.

Sehen Sie das auch als eine der Ursachen für die Lohnungleichheit?

Absolut. Frauen werden einfach nach anderen Kriterien beurteilt, was es so extrem schwierig macht. In der Wissenschaft ist es unbestritten, dass es ein Schönheitskapital gibt. Ich verstehe jede Frau, die das einsetzt, denn in einer Gesellschaft, die uns so benachteiligt, zählt jeder Vorteil. Aber es ist doch völlig absurd. Dieses Kapital hat nichts mit der Fähigkeit der Frau zu tun. Es sagt nichts darüber aus, wie intelligent oder leistungsfähig sie ist. Kommt dazu: Können Sie sich an eine Diskussion erinnern, wo es um den dicken Bauch oder die schlechte Frisur eines Parlamentariers ging? Ich also nicht.

«Wenn eine Frau aus dem Rahmen fällt, wenn sie zu laut ist oder nicht so aussieht, wie sie ausschauen sollte, dann spürt sie den gesellschaftlichen Druck.»

 
Tamara Funiciello, Juso-Präsidentin und Nationalratskandidatin

Fast 30 Jahre nach dem ersten Frauenstreiktag kommt es am 14. Juni zu einer neuen Auflage. Ein wichtiges Datum für Feministinnen. Was bedeutet Ihnen dieser Tag?

Das für mich Wichtigste ist bereits passiert. Im ganzen Land haben sich Frauen mobilisiert, die an diesem Tag gemeinsam für ihre Rechte einstehen werden. Die Frauennetzwerke sind so aktiv wie schon lange nicht mehr. Und die Forderungen sind klar: Wir sind nicht mehr bereit zu warten, wir wollen handeln und endlich Ergebnisse erzielen. Die Frauen von heute lassen sich nicht mehr mit einem Butterbrot abspeisen. Wir fordern gleiche Löhne und die Gleichberechtigung, und wir wollen, dass die Frauenarbeit, auch die unbezahlte, aufgewertet wird. Kurz: Wir fordern eine neue gesellschaftliche Struktur. Es darf einfach nicht sein, dass Topmanager Millionen kassieren, aber Mütter, die unsere Kinder grossziehen, völlig leer ausgehen.

Diese Forderungen sind aber nicht neu, sie waren schon vor 30 Jahren da. Passiert ist seither also nicht so viel.

Sie haben recht. Leider brauchen solche Transformationen extrem viel Zeit. Wir haben noch viel zu leisten. Umso wichtiger, dass wir in grosser Zahl aufstehen. Ich glaube tatsächlich, dass unsere Gesellschaft heute sogar konservativer ist als noch in den 1990er Jahren. 

Womit wir bei der Frauenquote wären. Andere Länder kennen hier bereits ein Obligatorium, die Schweiz tut sich damit schwer. Was halten sie von Quotenfrauen? 

Ich bin eine Quotenfrau. Und in diesem Fall ist das nicht die schlechteste Lösung (lacht). Nein, ernsthaft. Die Frauenquote ist eine Notwendigkeit. Statistiken zeigen: In Unternehmen, die eine Quote einführen, spült es nicht die guten Männer weg, sondern die mittelmässigen. Und das ist der Punkt. Wir haben derzeit ganz viele mittelmässige Männer an wichtigen Positionen, weil der Vorgesetzte dazu tendiert, eine Person nachzuziehen, die ihm ähnlich ist. 

Bezeichnet sich selbst auch als Frau mit männlicher Rhetorik. 
Bezeichnet sich selbst auch als Frau mit männlicher Rhetorik. 
Keystone

Ist das der Grund, warum viele Frauen in Führungsfunktionen eher männlich auftreten?

Macht ist heute tatsächlich männlich. Auch ich habe eine männliche Rhetorik, darüber bin ich mir bewusst.

Fördern sie denn jede Frau? Uneingeschränkt? Sagen wir ein SVP-Bundesrat-Sitz wird frei – und Magdalena Martullo-Blocher steht zur Wahl. Würden Sie ihr die Stimme geben?

Ich glaube nicht, dass Martullo-Blocher schlimmer wäre als irgendeine andere Person bei der SVP. Und hier spielt das Geschlecht eben auch keine Rolle. Ob Ueli Maurer oder Martullo-Blocher, das ist das Gleiche. Entscheidend ist für mich die Frage: Was machen Frauen tatsächlich für andere Frauen. Es braucht also nicht nur Frauen, sondern die richtigen Frauen. Also die richtigen, linken Frauen.

Sie sagen, in der Juso gibt es genug Männer, die die Gleichberechtigung mittragen – wie sieht das denn in der Mutterpartei aus? Cedric Wermuth wird ja wegen seiner Ständeratskandidatur stark kritisiert.

Fragen Sie da Cedric Wermuth, ob er das für eine schlaue Idee hält oder nicht. Aber: Es gibt bei der SP viel zu tun, ganz klar. Es ist vermessen zu glauben, dass Sexismus vor der Parteigrenze Halt macht, sie macht es nicht. Absolut nicht. Sexismus ist nicht einfach eine Verhaltensweise, es ist ein System. Innerhalb der SP haben wir einen Vorteil und zwar den, dass es Kreise gibt, die dagegen ankämpfen, zum Beispiel die SP Frauen. Und das nicht nur auf die Wahlen hin, sondern langfristig.

Stichwort Wahlen. Sie treten im Oktober für den Nationalrat an. Welche Chancen rechnen Sie sich aus? 

Ich weiss es nicht, wie es rauskommt. Aber ich habe den grossen Vorteil, dass ich politisiere, um etwas zu verändern, und nicht, um gewählt zu werden. Bei mir weiss der Wähler ganz genau, was er bekommt. Entweder findet er das gut oder eben nicht. Niemand wird im Nachhinein enttäuscht. Auch ich nicht. Will das Stimmvolk nicht, dass meine Politik im Bundeshaus ankommt, dann kann ich damit super leben. Ich bin sehr gerne Grossrätin und noch viel lieber Aktivistin und werde mich auch bei einer Nichtwahl zu beschäftigen wissen.

Was wäre der erste Vorstoss, wenn es klappen würde?

Ich werde mich sofort dafür stark machen, dass die Arbeitszeit reduziert wird, um wie viel, darüber können wir diskutieren. Die Bürgerlichen starten ja einen Angriff, um die Arbeitszeiten zu flexibilisieren. Es ist der richtige Zeitpunkt dagegen anzugehen. Ich stehe als Gegenpart in den Startlöchern.

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