Schweizer nimmt ukrainische Familie auf «Nur so konnte ich meiner Hilflosigkeit entfliehen»

Von Lia Pescatore

5.3.2022

«Ich bin zu blauäugig an die Sache rangegangen»: Bauer Bruno Schwaller auf dem Rückweg, aufgenommen während eines ersten Zwischenstopps an einer ungarischen Tankstelle.
«Ich bin zu blauäugig an die Sache rangegangen»: Bauer Bruno Schwaller auf dem Rückweg, aufgenommen während eines ersten Zwischenstopps an einer ungarischen Tankstelle.
zVg

Bruno Schwaller fuhr 3'200 Kilometer weit, um eine ukrainische Familie zu sich nach Hause zu holen. Die Grenzregion selbst hat er nie zu Gesicht bekommen – und ist froh drum.

Von Lia Pescatore

«Da war dieser grosse Stein in uns.» Wenn Bruno Schwaller an jenen Moment denkt, als er die ukrainische Familie zum ersten Mal in seine Arme schloss, ist da keine Erleichterung. 1'600 Kilometer lagen damals bereits hinter ihm, eine Nacht hat er im Auto, irgendwo in der Nähe von Wien, verbracht.

So genau kann sich Schwaller schon nicht mehr erinnern, als er zwei Tage später einen ruhigen Moment findet, um mit blue News zu sprechen. Die Eindrücke dieser Tage und der Tausende Kilometer langen Reise scheinen auf ihn einzuprasseln, schwer zu ordnen, schwer in Worte zu fassen. Aber Erleichterung, nein, die habe er nicht verspürt, als er nach stundenlanger Irrfahrt endlich den Vater mit seinem eineinhalbjährigen Sohn am Strassenrand entdeckte, die nach ihm Ausschau hielten.

Zuerst waren da die Nervosität und Unsicherheit: «Wie soll ich mich verhalten, wo ich doch nicht weiss, was die Familie alles erlebt hat?» Auf eine solche Situation sei er nicht vorbereitet gewesen, sagt der Landwirt aus dem solothurnischen Recherswil, «das hat man nirgendwo gelernt».

Um die 3'200 Kilometer ist Bruno Schwaller gefahren.
Um die 3'200 Kilometer ist Bruno Schwaller gefahren.
zVg

Vorbereitet war er auch nicht auf die Bilder und Fotos, die ihm die Familie zeigte. «Es erschien, als versuchten sie, sich zu rechtfertigen», als hätten sie Schwaller davon überzeugen müssen, dass sie wirklich in Not seien. Die Szenen, die ihm die Familie präsentierte, hat Schwaller bis heute nicht verdaut. Darüber sprechen mag er nicht.

Im Nachhinein ist er froh, schaffte es die Familie schneller über die Grenze als erwartet. Sie verbrachten darum die Nacht in einem Auffanglager im Landesinneren von Ungarn. Dies erfuhr Schwaller, als er wenige Kilometer von der Grenze entfernt war und im Stau stand – «zum Glück», wie er im Nachhinein sagt, «für mich selbst». «Ich bin froh, dass ich diese Szenen an der Grenze nicht sehen und spüren musste.»

Wie reagiert der Bund auf Schwallers Reise?

Das Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) betont auf Anfrage, dass jede Person gemäss Bundesgesetz beim Aufenthalt im Ausland eine Eigenverantwortung trage. «Das EDA rät von Reisen in die Ukraine ab», was die Grenzgebiete betreffe, würden sie auch bei den Reisehinweisen für die Nachbarstaaten auf die «Zunahme der Spannungen in der Region» aufmerksam machen. 

«Einladen, Türen zu und losfahren»: Schnell waren sie wieder unterwegs, die wenigen Habseligkeiten, die die Familie mitbrachten, waren zügig eingeladen. Ein paar Rucksäcke, Plastiksäcke mit frischen Lebensmitteln und Windeln für den Kleinen, einen Kinderwagen – mehr hatte die Familie nicht dabei. Bruno Schwaller versuchte, möglichst einfach zu beschreiben, was die Familie in den nächsten Tagen erwartet: Es geht «nach Hause», sagte Schwaller mithilfe des Übersetzungsgeräts, zu spät realisierte er, dass er der Einzige im Auto ist, der nach Hause fährt. Sich entschuldigen – schwierig, wenn man nicht dieselbe Sprache spricht. «Da ist mir bewusst geworden, welche Verantwortung ich trage», er habe sie in ein neues Leben geleitet, wie ein Neugeborenes.

Das Gepäck der Familie war schnell im Auto verstaut.
Das Gepäck der Familie war schnell im Auto verstaut.
zVg

Der Stein an Betroffenheit und Leid, der Schwaller bereits zu Beginn wahrnahm, blieb. Er wog schwerer, wenn Militärfahrzeuge ihren Weg kreuzten, oder an der Raststätte, wo er sich zwischen den Geflüchteten einreihte, um für das Benzin zu bezahlen. «Allen sind die Tränen in den Augen gestanden», alle hätten nur funktioniert, sagt er, sichtlich ergriffen. Das Verhältnis sei dadurch nicht erschüttert worden. «Wir haben uns blind vertraut.»

Umso wichtiger war es ihm, «die Landung zu Hause sanft zu gestalten». Eine Dolmetscherin aus dem Nachbardorf war anwesend, als das Auto auf den Hof in Recherswil einfuhr und die ukrainische Familie von Schwallers Familie begrüsst wurde.

Es sei ihm sehr wichtig gewesen, dass die Botschaft ankam, und zwar nicht nur über Kommunikation mit Händen und Füssen: «Ihr seid hier herzlich willkommen und nun ein Teil der Familie.» Der erste Abend endete schon mal gut: Während sich die Kinder auf dem Trampolin vergnügten, wurde bei den Erwachsenen die lange Reise nach Pizza mit Schnaps begossen.

In diesem Gartenhäuschen ist die Familie nun einquartiert, neu ausgestattet mit einer kleinen Küche.
In diesem Gartenhäuschen ist die Familie nun einquartiert, neu ausgestattet mit einer kleinen Küche.
zVg

Auf die ganze Reise rückblickend, ist für Schwaller klar: «Ich bin zu blauäugig an die Sache herangegangen.» Reue verspüre er keine, «nur so habe ich meiner Hilflosigkeit entfliehen können». Und auch anderen Menschen habe er damit die Möglichkeit gegeben, konkret zu helfen. Auf seinen Aufruf nach Mithilfe hätten sich verschiedenste Menschen gemeldet, vom Gemüsehändler bis zur Inhaberin eines Fusspflegestudios. Sie alle hätten ihre Unterstützung angeboten, gute Ideen eingebracht. Auch die Dolmetscherin wurde ihm so vermittelt.

Der Zuspruch gebe ihm und seiner Familie viel Energie und Kraft, weiterzumachen. «Ich muss aufpassen, dass ich mit dieser Energie die ukrainische Familie nicht überrolle.»

Dies habe oberste Priorität: dafür zu sorgen, dass die Familie nun in Ruhe in der Schweiz ankommen könne.