ErziehungsmassnahmenKörperstrafen gehören für fast jeden zweiten Elternteil dazu
Von Monique Misteli
17.10.2022
Welche Erziehungsmassnahmen erlaubt sind und welche nicht, ist für viele Eltern unklar. Das zeigt eine neue Studie. Der Kinderschutz Schweiz fordert deshalb, dass gewaltfreie Erziehung gesetzlich verankert wird.
Von Monique Misteli
17.10.2022, 06:55
17.10.2022, 08:33
Monique Misteli
Mal wird getrotzt, mal diskutiert, mal geschrien – oder mehr. Psychische oder körperliche Bestrafungen, um ein Kind zu erziehen, gehören in vielen Familien zum Alltag.
Welche Massnahmen sind erlaubt, welche gehen zu weit? Die Universität Freiburg wollte im Auftrag der Organisation Kinderschutz Schweiz wissen, wie Eltern über dieses Thema denken. Dazu befragte sie 1013 Väter und Mütter über ihr rechtliches Verständnis von zwölf Bestrafungsmethoden.
Mütter glauben eher, dass Gewaltformen verboten sind
Die am Montag veröffentlichte Studie zeigt: Psychische Gewalt betrachten Eltern häufiger als gesetzeskonform als Erziehungsmethoden, die mit körperlicher Gewalt einhergehen – mit Ausnahme von Schlägen auf den Hintern. Zu diesen psychischen Gewaltformen zählt: das Kind «längere Zeit ignorieren» (32,4 Prozent glauben, das sei legitim) oder es «anschreien oder anbrüllen» (39,7 Prozent).
Auch Erziehungsmethoden, die vermeintlich geringe körperliche Schmerzen verursachen, empfinden Eltern eher als gesetzlich erlaubt. Etwa das «an den Ohren ziehen» (8,8 Prozent).
Knapp 40 Prozent der Eltern geben an, schon einmal eine Körperstrafe gegenüber ihrem Kind angewendet zu haben.
Weiter zeigt die Umfrage, dass Mütter generell Gewalt beinhaltende Erziehungsmassnahmen häufiger als gesetzlich verboten beurteilen als Väter (94,8 Prozent gegenüber 88,5 Prozent). Allerdings beurteilen sowohl Väter und Mütter harte Körperstrafen wie eine «Tracht Prügel», «mit einem Gegenstand schlagen», eine «schallende Ohrfeige» und «schütteln» in gleichem Masse als gesetzlich verboten.
Auch Erziehungsformen mit psychischer Gewalt beurteilen Mütter öfter als Väter als unerlaubt. Rund 72,4 Prozent der Mütter und 64,7 Prozent der Väter geben an, dass «mit Schlägen drohen» verboten sei. Das Kind «lange Zeit anschweigen/ignorieren» bewerten 39,3 Prozent der Mütter, aber nur 22,8 Prozent der Väter als unerlaubt. Für «anschreien oder anbrüllen» beträgt dieser Wert bei Müttern 23,1 Prozent und bei Vätern 17,1 Prozent.
Gewaltfreie Erziehung soll gesetzlich verankert werden
Das Schweizer Gesetz verbietet Körperstrafen nicht explizit, wenn diese nicht zu sichtbaren Schäden führen. Tamara Parham vom Kinderschutz Schweiz kritisiert: «Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Körperstrafen erlaubt sind.»
Die Fachfrau verweist auf Bundesgerichtsentscheide, die diese Schlussfolgerung bestätigen. Darin steht etwa, Züchtigungen im Rahmen der Familie würden nicht als Gewaltakte betrachtet, wenn sie ein gewisses, von der Gesellschaft akzeptiertes Mass nicht überschreiten und die Bestrafung nicht häufig wiederholt würden.
Auch durch seelische Gewalt kann Schaden angerichtet werden, besonders wenn diese regelmässig vorkommt – laut der Umfrage macht dies fast jeder sechste Elternteil. Nur: Psychische Gewalt ist schwer zu erkennen und strafrechtlich zu ahnden.
Umfrage
War Gewalt auch Teil deiner Erziehung?
Laut dem Kinderschutz Schweiz führe die heutige Rechtslage zu Unsicherheit. Deshalb fordert die Organisation einmal mehr, dass eine gewaltfreie Erziehung von Kindern im Zivilgesetzbuch verankert wird. Somit soll die 1997 ratifizierte UNO-Kinderrechtskonvention lückenlos umgesetzt werden. Die Konvention sieht vor, dass Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung (Art. 19 KRK) haben.
«Die Kinderrechte werden in der Schweiz aktuell ungenügend angewendet und umgesetzt», sagt Parham. Das bestätigt auch der Staatenbericht der Schweiz zur Umsetzung der UNO-Kinderrechtskonvention. Deshalb fordert der Kinderschutz Schweiz die Politik zum Handeln auf.
Kantönligeist bei den Kinderrechten
Viele Bereiche der Kinderrechtspolitik liegen in der Verantwortung der Kantone. Jeder Kanton regelt die Umsetzung der Kinderrechte auf unterschiedliche Art und Weise. Somit hängt es vom Wohnort des Kindes ab, wie seine Rechte geschützt werden.
Damit alle Kinder gleich behandelt würden, brauche es eine nationale Strategie mit systematischer Umsetzung in den Kantonen, heisst es in einem Bericht des Netzwerkes Kinderrechte Schweiz.
Bundesrat arbeitet Bericht aus
Aktuell ist ein Postulat von Nationalrätin Christine Bulliard-Marbach zum «Schutz von Kindern vor Gewalt in Erziehung» hängig. Der Bundesrat erarbeitet einen Bericht dazu, der in Kürze erscheinen sollte.
Darin wird die Landesregierung aufzeigen, ob sie eine Verankerung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung im Zivilgesetzbuch als nötig erachtet. Der Ständerat soll voraussichtlich in der Wintersession über das Geschäft beraten.