Deutlich mehr Corona-Fälle «Wie wenn im Flugzeug das ‹Bitte anschnallen›-Zeichen erlischt»

Von Gil Bieler

30.7.2020

Social Distancing geht bei schönem Wetter – wie hier in Lausanne – gerne einmal vergessen. 
Social Distancing geht bei schönem Wetter – wie hier in Lausanne – gerne einmal vergessen. 
Bild: Keystone/Laurent Gillieron

Die steigenden Fallzahlen geben Experten zu denken: Viele seien sich ihrer Verantwortung für die Gesellschaft nicht bewusst, sagt Epidemiologe Marcel Tanner. Doch auch die Kommunikation der Behörden könnte besser sein, sagt Professorin Suzanne Suggs.

Pascal Strupler wählte vor den Medien deutliche Worte: «Die Situation verschärft sich. Sie ist ernst» – so kommentierte der Direktor des Bundesamts für Gesundheit (BAG) heute Donnerstag die neuesten Entwicklungen in der Coronakrise.

Davor signalisierten bereits die neuesten BAG-Zahlen eine ähnliche Dringlichkeit: 220 neue Infektionen innerhalb eines Tages – so viele wie zuletzt im April. Und: Im Kanton Freiburg müssen 240 Personen in Quarantäne, weil eine infizierte Person in drei Lokalen unterwegs war.

«Die steigenden Fallzahlen sind besorgniserregend», sagt Marcel Tanner am Telefon zu «Bluewin». Der Epidemiologe ist Mitglied der wissenschaftlichen Taskforce, die den Bund in der Coronakrise berät. Die Vergangenheit habe gezeigt, dass die Fallzahlen in den tiefen zweistelligen Bereich gehalten werden können, sofern die Grundmassnahmen – Hygiene, Abstandhalten und Maske tragen, wo das nicht möglich ist – konsequent befolgt würden.

Auch Suzanne Suggs, Professorin für Soziales Marketing an der Universität Lugano, sieht die Entwicklung bei den Fallzahlen mit Sorge. «Es zeigt, dass den Leuten zu wenig bewusst ist, welche Bedeutung die Hygiene- und Schutzmassnahmen haben.» Suggs ist Expertin auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheitskommunikation und ebenfalls Mitglied der Science Taskforce.

«Wie wenn das ‹Bitte anschnallen›-Zeichen erlischt»

Sie sagt gegenüber «Bluewin» weiter: «Mich erinnert die aktuelle Situation an den Moment im Flugzeug, wenn nach dem Start das ‹Bitte anschnallen›-Zeichen erlischt und man wieder herumlaufen kann.» Weil nach dem Lockdown die Vorschriften und Regulierungen gelockert worden seien, sei automatisch auch das Gefühl vermittelt worden, alles sei wieder sicher. Dabei sei das Virus ja nicht verschwunden. «Und nur unsere Disziplin hat es uns erlaubt, wieder einige Freiheiten zurückzuerhalten.»

Tanner begrüsst, dass der Bund den Kantonen nun eine Maskenpflicht in den Läden empfiehlt. Auch wenn es bedauerlich sei, dass dies «von oben» verordnet werden müsse: «Besser wäre es, die Leute würden sich von alleine an die Regeln halten.» Doch dazu seien einige nicht mehr bereit: «Viele haben genug von der Krise, wollen den Sommer geniessen und es lockerer nehmen. Sie vergessen, dass wir alle im selben Boot sitzen.»

Selbstverantwortung wird falsch verstanden

Das habe auch mit dem Prinzip der Selbstverantwortung zu tun, das oft falsch interpretiert werde: «Man ist eben nicht nur für sich selbst verantwortlich, sondern auch für die Gemeinschaft», so Tanner.

Mögliche Gründe für diese Haltung sieht der Epidemiologe darin, dass eine Infektion nicht für jede Bevölkerungsgruppe gleich gefährlich ist. Und: «Covid-19 ist zwar gefährlicher als eine Grippe, aber vielleicht nicht ‹gefährlich genug›, um konsequent Empfehlungen und Massnahmen zu befolgen», so Tanner. Er zieht den Vergleich zu Ebola, wo 50 bis 60 Prozent aller Infektionsfälle tödlich enden. «Da ist natürlich die Bereitschaft, sein persönliches Verhalten zu ändern, viel grösser.»



In der aktuellen Situation sei es wichtig, dass aufflammende Infektionsherde rasch erkannt würden und schnell gehandelt werde, so Tanner. «Indem man Zeit gewinnt, lassen sich neue Fälle am besten verhindern.» Zudem müssten die Behörden beim Bund und den Kantonen sowie alle Beteiligten ihre Kommunikation kontinuierlich anpassen, damit die Menschen informiert bleiben. Dabei müsse man adressaten-, aber auch zeitgerecht vorgehen. Als Beispiel nennt Tanner die Information für Reisende, die man jetzt zur Hauptreisezeit gestartet habe.

Dass die Fallzahlen wieder steigen, zeige aber, dass es bei der Kommunikation noch Verbesserungspotenzial gebe, sagt Suggs. «Es geht nicht nur darum, zu informieren, sondern auch darum, zu überzeugen. Die Menschen müssen erkennen, was es bringt, wenn sie sich wie empfohlen verhalten.» Dieser Aspekt könnte in der Kommunikation der Behörden mehr betont werden.

Ausserdem müssten mehr Akteure die Botschaften des Bundes verbreiten, findet Suggs: «Die Behörden geniessen in der Schweiz zwar ein hohes Vertrauen, sind aber weit weg vom Alltag des Bürgers.» Deshalb sollten auch vermehrt andere Akteure eingebunden werden: Sie denke da etwa an Sportler oder Geschäftsführer, aber auch Kampagnen mit ganz normalen Bürgern.

Das BAG hat just heute eine neue Plakatkampagne zur Coronakrise gestartet. Zwar ohne prominente Köpfe, aber mit einer Erinnerung für Ferienreisende und Rückkehrer, dass die Hygiene- und Abstandsregeln weiterhin gelten. Denn: «Das Coronavirus ist noch da.»

Zurück zur Startseite