Lagebild Ukraine Selenskyj kritisiert den Westen, während Putin Männer verheizt

Philipp Dahm

1.11.2024

Nato: Russische Verluste bei mehr als 600.000 Soldaten

Nato: Russische Verluste bei mehr als 600.000 Soldaten

Brüssel, 28.10.2024: Seit über zweieinhalb Jahren kämpfen russische Soldaten auf ukrainischem Gebiet. Doch nicht nur die Ukraine hat grosse Verluste zu verzeichnen, auch Russland zahlt für seinen Angriffskrieg einen hohen Blutzoll. Laut Nato-Generalsekretär Mark Rutte sind mittlerweile mehr als 600.000 russische Soldaten getötet oder verwundet worden. Die von der Nato genannte Opferzahl hat sich damit innerhalb von rund einem Jahr verdoppelt. Rutte ist sich sicher: «Putin ist nicht in der Lage, seinen Angriff auf die Ukraine ohne ausländische Unterstützung aufrechtzuerhalten.» Rutte bestätigt ausserdem, dass nordkoreanische Militäreinheiten in der grenznahen Region Kursk stationiert sind. Aus Sicht des Verteidigungsbündnisses eine erhebliche Eskalation und eine gefährliche Ausweitung von Russlands Krieg.

28.10.2024

Russlands Armee hat in Kursk wie auch in der Ukraine Boden gutgemacht. Wolodymyr Selenskyj fehlen Personal und Ausrüstung: Sein Ton gegenüber dem Westen wird rauer. Aber auch Wladimir Putin hat Probleme.

Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • «Keine Vertraulichkeit»: Wolodymyr Selenskyjs sogenannter Siegesplan ist bei seinen Verbündeten nicht nur durchgefallen, es wurden auch geheime Details öffentlich.
  • Selenskyj kritisiert weiter, dass der Westen auf die Entsendung von Nordkoreanern an die Front nicht ausreichend reagiert.
  • Die US-Wahl schwebt wie ein Damoklesschwert über der Ukraine: Selenskyj betont trotzig, er werde kein Territorium abgeben – auch nicht, wenn Trump gewinnen sollte.
  • Russland kommt derzeit zwar voran, verbrennt dazu aber einerseits viel Geld und anderseits jede Menge Soldaten.
  • Experten glauben nicht, dass die russische Wirtschaft noch lange so weiterlaufen kann.
  • Vergleich in Bildern: Wie sich der Frontverlauf zwischen dem 1. und 31. Oktober verändert hat.

Wolodymyr Selenskyj hat dieser Tage nichts zu lachen. Im vergangenen Monat ist der ukrainische Präsident in die USA geflogen und hat Europas Hauptstädte besucht, um für seinen sogenannten Siegesplan zu werben. Doch diese Mission ist gründlich in die Hose gegangen.

Kein Wunder: Der 46-Jährige hat eine Einladung in die NATO, mehr Abschreckung durch den Westen und Investitionen in die heimische Rüstungsindustrie gefordert. Im Gegenzug hat er zur Ausbeutung ukrainischer Ressourcen eingeladen und angeboten, in Zukunft US-Truppen in Europa zu entlasten, in dem man sie durch Kiews Soldaten ersetzt.

Als hätte Washington ein Interesse daran, sein Standbein etwa in Deutschland aufzugeben. Und dass Berlin erpicht darauf ist, die Soldaten der Atommacht USA durch Truppen aus der Ukraine zu ersetzen, kann Selenskyj auch nicht wirklich geglaubt haben. Vielleicht hat sich der Präsident mit seiner Initiative mehr geschadet als geholfen.

«Keine Vertraulichkeit zwischen den Partnern»

Die Stimmung zwischen Kiew und dem Westen scheint zunehmend abzukühlen. Wütend wirkt Selenskyj, nachdem die «New York Times»  geheime Details seines Planes verrät. Demnach hat Kiew unter anderem um die Lieferung von Tomahawk-Marschflugkörpern gebeten. 

«Es war eine vertrauliche Information zwischen der Ukraine und dem Weissen Haus. Wie sollen wir diese Berichte interpretieren?», antwortet Selenskyj auf Nachfrage skandinavischer Journalisten genervt. «Es heisst anscheinend, dass es keine Vertraulichkeit zwischen den Partnern gibt.» Der Westen lässt den Präsidenten auflaufen.

Die USA und Co. heben die Waffen-Beschränkungen nicht auf und liefern auch keine Langstrecken-Munition. Nicht mal auf die nordkoreanischen Soldaten reagiert der Westen: «[Putin] probiert aus, was passiert, wenn er das Kontingent einsetzt», beschwert sich Selenskyj im südkoreanischen TV. «Und dann, wenn nichts passiert – und ich denke, die derzeitige Reaktion ist null – wird er das Kontingent erhöhen.»

Gebietsabtretungen an Russland? «Nicht durchführbar»

Die Ukraine müsse bald gegen zwei Armeen kämpfen, klagt der Präsident. Die eigenen Streitkräfte plagen viele Probleme: Es gibt zu wenig Personal und auch die Ausrüstung fehlt, um dieses in den Krieg zu schicken. Das fällt auch im Westen auf: Kiew sei im «Survival mode», analysiert der «Economist»: «Die Ukraine hat nicht Mühe, zu gewinnen, sondern [zu übeleben].»

Über Selenskyj und seinem Land schwebt gleichzeitig das Damoklesschwert der US-Wahl: «Wer auch immer der nächste Präsident wird, es wird tiefgreifende Auswirkungen auf die Grenzen der Ukraine und alle haben, die darin leben», weiss die BBC. «Wenn die Hilfe stoppt oder sich verlangsamt, wird die Last auf den Schultern der Infanterie liegen», wird Soldat Andrij zitiert. «Wir werden kämpfen, mit was wir haben, aber jeder weiss, dass die Ukraine es nicht alleine machen kann.»

«[Trump] hat erklärt, er wolle den Krieg schnell beenden und ein Modell finden, um das zu erreichen», erklärt Selenskyj dazu kämpferisch. «Wenn er gewinnen sollte und versucht, die Ukraine zu zwingen, Territorium aufzugeben, um einen Deal mit Russland zu machen, sehe ich das als nicht durchführbar an.»

Russen werden gnadenlos verheizt

Und Wladimir Putin? Den plagen ähnliche Probleme wie Selsnkyj. Auch Russlands Armee fehlt es an Personal und Ausrüstung, doch dort springen Nationen wie der Iran oder Nordkorea ein, um die Lücken zu füllen. So kann der Kreml auch weiterhin vorrücken – wenn auch unter hohen Verlusten.

Mehr als 1600 verletzte oder getötete Soldarten an einem Tag, mehr als 10'000 Verluste in einer Woche – und insgesamt sollen seit Kriegsbeginn mehr als 690'000 russische Soldaten ausser Gefecht gesetzt worden sein, behauptet die Gegenseite. Wie diese Zahlen zustande kommen, beschreibt «Forbes» anhand eines russischen Angriffs in Kursk.

Da werden die Soldaten der 810. Marine-Infanterie-Brigade sehenden Auges mit Truppentransportern vorgeschickt, obwohl ukrainische T-64-Panzer auf sie warten, die die Fahrzeuge aus nächster Nähe zerstören. «Wir wurden als Fleisch hereingeschickt», berichtet später ein 19-Jähriger, der bei der Attacke sein Bein verliert.

40 Prozent der öffentlichen Ausgaben für das Militär

Diese Männer fehlen nicht nur der Armee, sondern auch an der Heimatfront: Moskau muss einen Drahtseilakt zwischen militärischer Potenz und ökonomischer Stärke bewältigen. Und das kostet: Laut «Euronews» hat der Kreml zwischen Juli 2023 und Juni 2024 für seine Soldaten rund 28,3 Milliarden Franken ausgegeben, was 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht.

Das Geld wurde für Hinterbliebene oder Verwundete ausgegeben oder als Lohn ausbezahlt. Wer sich in St. Petersburg für die Armee anwerben lässt, bekommt gut 10'000 Franken Prämie, im Oblast Krasnodar sind es 15'000 Franken und in Moskau 18'000 Franken. Doch die monetären Vorräte gehen zuneige: «Russland kann nicht mehr lange so viel ausgeben», weiss «Foreign Policy».

2025 wird der Kreml demnach 123 Milliarden Franken oder 40 Prozent der öffentlichen Ausgaben in das Militär investieren. «Russlands Wirtschaft überhitzt, aber Putin kann den Kurs nicht wechseln», analysiert die Denkfabrik Atlantic Council. Mit Zinsen in Höhe von 21 Prozent versuche Moskau, einen Crash zu verhindern, doch es sei nicht sicher, dass Putins finanzieller Atem ausreicht, um den Krieg zu gewinnen.

So sieht es an der Front aus

Im Oktober hat die russische Armee an der Front Fakten geschaffen, wie ein Vergleich der Karten vom 1. und vom 31. belegen. Am weitesten sind Moskaus Männer in Donezk vorgerückt, wo die für den Nachschub wichtige Stadt Pokrowsk einerseits noch nicht eingenommen worden ist. Dafür konnten die Russen die Front verbreitern und schicken sich an, die Stadt Kurachowe einzukesseln.

Lage in Donezk am 1. Oktober.
Lage in Donezk am 1. Oktober.
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Lage in Donezk am 31. Oktober: Eroberte Flächen sind eingekreist. Kurachowe droht in einen Kessel zu geraten.
Lage in Donezk am 31. Oktober: Eroberte Flächen sind eingekreist. Kurachowe droht in einen Kessel zu geraten.
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Auch Tschassiw Jar ist eine wichtige Stadt für die Verteidiger: Den Russen ist es im Oktober gelungen, den für die Defensive so wichtigen Kanal an mehreren Stellen zu überqueren.

Tschassiw Jar am 1. Oktober.
Tschassiw Jar am 1. Oktober.
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Tschassiw Jar am 31. Oktober.
Tschassiw Jar am 31. Oktober.
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Im Norden sind die Russen nicht nur weiter auf die Schlüsselstadt Kupjansk (A) vorgerückt. Es ist ihnen auch gelungen, bis zum Dorf Kruhljakiwka (B) am Fluss Oskil vorzustossen und einen Keil in die Front zu treiben.

Lage bei Kupjansk am 1. Oktober.
Lage bei Kupjansk am 1. Oktober.
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Lage bei Kupjansk (A) am 31. Oktober: Von Russen eroberte Gebiete sind eingekreist.
Lage bei Kupjansk (A) am 31. Oktober: Von Russen eroberte Gebiete sind eingekreist.
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Im russischen Oblast Kursk konnten die Streitkräfte des Kreml besetzte Gebiete zurückerobern.

Kursk am 1. Oktober.
Kursk am 1. Oktober.
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Kursk am 31. Oktober: Die Gebiete, die die Ukrainer verloren haben, sind eingekreist.
Kursk am 31. Oktober: Die Gebiete, die die Ukrainer verloren haben, sind eingekreist.
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