Interview «Putin will Geschichte schreiben als ‹Sammler der russischen Erde›»

Von Gil Bieler

14.3.2020

Von Libyen über die US-Vorwahlen bis zur Krim: Russlands Präsident Wladimir Putin mischt auch ausserhalb der russischen Grenzen überall mit.
Von Libyen über die US-Vorwahlen bis zur Krim: Russlands Präsident Wladimir Putin mischt auch ausserhalb der russischen Grenzen überall mit.
Bild Keystone

In Russland hat Wladimir Putin schon so viel Macht angehäuft wie möglich – entsprechend mehren sich die Militärmanöver im Ausland. Ein Experte spricht über Syrien, die Ukraine, Edward Snowden und Ex-Spione.

Herr Schmid, Putin dürfte nach den Geschehnissen dieser Woche weiterhin als Präsident an der Macht bleiben. Wird es so nicht umso schwerer, dereinst einen Nachfolger zu installieren?

Das ist eine schwierige Frage. Putin ist jetzt de facto seit 20 Jahren an den Schalthebeln der Macht, da können gewisse Ermüdungserscheinungen im System auftreten. Um dem vorzubeugen, wurde jetzt die Verfassungsreform ins Spiel gebracht. Dabei geht es ja nicht um die Verfassung als solche – es ist vielmehr ein Plebiszit über die russische Gesellschaftsordnung, wie sie in den letzten 20 Jahren geformt wurde.

Wie meinen Sie das?

Das zeigt sich schon an der Zusammensetzung der Gruppe, die an der Reform der Verfassung arbeitet: Von 75 Personen sind nur fünf Juristen, der Rest sind Prominente wie die frühere Kosmonautin Valentina Tereschkowa, die am Dienstag in der Duma das entscheidende Votum abgab, um Wladimir Putin den Weg zu zwei weiteren Amtszeiten zu ebnen. Die neue Verfassung soll weniger ein Grundgesetz sein, sondern vielmehr ein Ausdruck des Volkswillens.  

Zur Person
zVg

Ulrich Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen.

Wechseln wir zur geopolitischen Perspektive. Da fällt ja auf, dass man den Russen derzeit ziemlich alles zuzutrauen scheint – wie viel ist begründete Sorge, wie viel lediglich Legendenbildung?

Seit dem Bericht von US-Sonderermittler Robert Mueller wissen wir ja sehr genau, wie die russische Einmischung in die US-Präsidentschaftswahlen von 2016 ausgesehen hat. Man sollte den russischen Einfluss aber nicht überschätzen. Die amerikanische Gesellschaft befand sich in einer Krise, und der Einfluss von Moskau blieb überschaubar. Russland streitet die Einflussnahme natürlich trotz erdrückender Beweislage ab. 

Es gibt auch andere Beispiele, wie die Vergiftung des russischen Ex-Spions Sergej Skripal und dessen Tochter in Südengland. Unterschätzt man im Westen die Gefahr, die von Russland ausgeht?

Nein, das glaube ich nicht. Die westlichen Staaten haben da ein sehr realistisches Bild. Und beim Fall von Skripal handelt es sich in erster Linie um eine interne Abrechnung des russischen Geheimdienstes. Aus russischer Sicht geht es um ein Signal an Mitarbeiter des Geheimdienstes: ‹Verräter, die zum Westen überlaufen, sind ihres Lebens nicht mehr sicher.›  

Trotzdem geschah diese ‹interne Abrechnung› ja auf britischem Territorium.

Das stimmt, und die britische Regierung hat auch entsprechend scharf reagiert.  

Muss der amerikanische Whistleblower Edward Snowden die russische Regierung eigentlich unterstützen im Gegenzug für sein Asyl?

Beide Seiten sind bemüht, genau diesen Eindruck nicht entstehen zu lassen. Russland war nie Snowdens erste Wahl für sein Asyl; gleichzeitig muss er wissen, dass seine Veröffentlichungen dem Kreml in die Hände spielen.



Auch in vielen Krisenherden mischt Russland mit: im Syrien-Krieg, im Libyen-Konflikt, in der Ukraine – lässt sich da ein roter Faden erkennen?

Das Eingreifen in den Syrien-Konflikt hatte zuerst vor allem einen innenpolitischen Aspekt – man wollte ablenken vom blutigen Krieg im Donbass, dem umkämpften Gebiet in der Ostukraine. Russland hatte sich in eine widersprüchliche Argumentation verstrickt: Im Vorfeld der Krim-Annexion hatte man argumentiert, dass die dort wohnhaften Russen unterdrückt würden. Um sie zu schützen, habe man die Halbinsel einnehmen müssen. Bloss: Im Donbass herrscht bereits seit Sommer 2014 ein blutiger Konflikt, bei dem Russen sterben. Da lag die Frage nahe: Warum sollte man nicht auch dort einschreiten?

Die Antwort lautet natürlich: Die aktuelle Situation –  die Destabilisierung der Ukraine – ist genau das, was der Kreml erreichen will. Ein ukrainischer Nato-Beitritt ist unmöglich, solange Kiew sein Territorium nicht kontrollieren kann. Der Einsatz in Syrien erfolgte nicht zuletzt, um von dieser widersprüchlichen Situation abzulenken.  

Und der syrische Präsident Assad ist ohnehin ein traditioneller Verbündeter von Moskau.

Das kommt noch dazu. Man konnte so auch ein aussenpolitisches Signal aussenden: ‹Russland ist ein verlässlicher Alliierter.› Die Amerikaner haben im Nahen Osten verschiedene Staaten unterstützt und nachher wieder fallen lassen, was den traditionellen Anti-Amerikanismus in der Region verstärkt hat. Russland dagegen konnte mit seiner Syrien-Politik zeigen, dass man mit dem Assad-Regime durch dick und dünn geht. Diese Botschaft ist enorm wichtig und hat Russlands Ruf in der ganzen Region gestärkt.  


Galerie: Putin präsentiert Russlands neue Atomwaffe

Wenn auch zu einem hohen finanziellen Preis ...

Die militärischen Engagements im Ausland sind natürlich enorm teuer, und die Verwicklung in den Syrienkrieg ist in der russischen Bevölkerung auch extrem unpopulär. Die Leute fragen sich ‹Was machen wir dort überhaupt?› und: ‹Könnte man dieses Geld nicht in andere, soziale Projekte stecken?› Das sieht der Kreml natürlich und hat deshalb auch schon mehrfach öffentlich den Rückzug aus Syrien verkündet. 

Die Krim-Annexion kostet ebenfalls Unsummen. Die scheint aber weniger umstritten zu sein, oder?

Das ist ein persönliches Projekt von Putin. Er kann in Russland ja gar nicht mehr Macht anhäufen. Darum will er nun in die Geschichtsbücher eingehen als ‹Sammler der russischen Erde›, und der Krim kommt da eine grosse Bedeutung zu. Dass Russland dort nun massiv in die Infrastruktur investiert, folgt einem alten Muster: Als die Deutschen 1871 das Elsass erobert hatten, erhielt Strassburg gleich ein neues Stadtviertel, um zu signalisieren, dass es den Leuten unter den neuen Herrschern besser geht. Dasselbe gilt für die Krim.  

Aber gibt es bei solchen Unsummen gar keinen Unmut in der Bevölkerung?

Nein. Die Krim-Annexion ist selbst bei den schärfsten Kritikern des Kreml unbestritten, weil in der Bevölkerung ein Konsens besteht, dass die Krim zu Russland gehört. Doch mit den nun sinkenden Ölpreisen tritt für Russland eine heikle Situation ein. Das Land hat ein aufgeblähtes Rentensystem, das eben nicht durch Steuern, sondern durch Einnahmen aus dem Rohstoffhandel finanziert wird. Und sobald die Renten nicht mehr gesichert sind, gerät die Legitimierung der Regierung ins Schwanken – das weiss der Kreml natürlich genau.  



Allein schon wegen der Nato reibt sich Russland immer wieder mit dem Westen. Steckt Putin im Geiste im Kalten Krieg fest?

Das glaube ich nicht. Es gibt einen bekannten Aufsatz von Putin aus dem Jahr 1999 über Russland an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Darin hält er explizit fest, dass der Kommunismus eine historische Sackgasse sei. Zur gelenkten Demokratie, wie es sie heute in Russland gibt, sieht er keine bessere Alternative.

Zum Bruch mit Westen kam es an der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 und später am Nato-Gipfel in Bukarest 2008. Damals erklärten die westlichen Partnerstaaten, Georgien und die Ukraine sollten Nato-Mitgliedstaaten werden. Seither lässt sich im politischen Diskurs in Russland eine Verschärfung gegenüber dem Westen feststellen.  

Möchte der Kreml mit seinen geopolitischen Aktionen auch von innenpolitischen Problemen ablenken? Die scheinen sich ja zu häufen.

Es ist schwierig zu sagen, ob sich diese tatsächlich häufen. Auf die Massenproteste vor der Präsidentschaftswahl 2012 hat man sehr schnell reagiert. Unmittelbar nach Putins Wiederwahl wurde die Versammlungsfreiheit beschnitten. Organisationen, die Geld aus dem Westen erhalten, wurden zu ausländischen Agenten erklärt. Es gibt also ein ganzes Instrumentarium, um den organisierten Protest einzudämmen.

Das sieht man am berühmtesten Oppositionspolitiker, Alexei Nawalny, der immer wieder mit Korruptionsvideos für Aufsehen sorgt. Nawalny wird immer wieder für ein, zwei Tage verhaftet, sein Fonds zur Bekämpfung der Korruption wird oft zum Ziel von Razzien. So hält der Kreml alle Organisationen, die Protestaktionen organisieren könnten, klein.

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