Rückblick 2018 Der Fall Skripal – vom «Agententhriller» zur internationalen Krise

DPA

18.12.2018

Soldaten tragen Schutzanzüge während der Ermittlungen zur Vergiftung des Ex-Doppelagent Skripal und dessen Tochter. 
Soldaten tragen Schutzanzüge während der Ermittlungen zur Vergiftung des Ex-Doppelagent Skripal und dessen Tochter. 
Bild: dpa/Andrew Matthews/PA Wire/Archiv

Es fing an wie ein James-Bond-Film und landete schliesslich auf der politischen Weltbühne. Das Nowitschok-Attentat in Salisbury lässt viele Fragen offen. Eine davon: Wieso traf es ausgerechnet Skripal?

Der ehemalige russische Doppelagent Sergej Skripal und seine aus Moskau eingeflogene Tochter Julia geniessen mutmasslich am 4. März das Beisammensein im englischen Salisbury. Skripals Ehefrau ist an Krebs gestorben, der Sohn an Leberversagen: Die Familie ist geschrumpft. Vater und Tochter reden viel miteinander, gehen Essen, schlendern durch die Stadt – doch plötzlich brechen beide zusammen.

Sie werden bewusstlos auf einer Parkbank gefunden, dem Tode nahe. Erst Wochen später wachen Vater und Tochter in einem Krankenhaus der idyllischen Kleinstadt auf. Sie erfahren: Russen sollen auf sie einen Anschlag mit dem extrem gefährlichen Nervengift Nowitschok verübt haben, das einst in der Sowjetunion entwickelt worden ist. Aus einem Anschlag entwickelt sich im Rekordtempo eine schwere diplomatische Krise – ohne Zeichen der Entspannung für 2019.

Bloss warum ist ausgerechnet auf Sergej Skripal ein solches Attentat verübt worden? Für den BBC-Journalisten und Historiker Mark Urban war Skripal als Agent eher ein kleiner Fisch. Urban wollte ein Buch über Spionage schreiben und hatte dafür im Sommer 2017 zehn Stunden lang den ehemaligen Agenten in Salisbury interviewt. Sein Urteil: «Skripal war nicht besonders aktiv als Spion.» Der Doppel-Agent des russischen Militärgeheimdienstes GRU habe weniger aus ideologischen Gründen gehandelt, sondern sei eher scharf aufs Geld gewesen.

Julia Skripal äusserte sich nach ihrer Vergiftung öffentlich.
Julia Skripal äusserte sich nach ihrer Vergiftung öffentlich.
Bild: DPA

«Wir haben Angst vor Putin»

Reich scheint er damit nicht geworden zu sein. Skripals Haus in Salisbury sei bescheiden, berichtete Urban. Notizen für die Briten soll er mit Geheimtinte geschrieben haben. Er flog 2004 auf und wurde in Russland zu 13 Jahren Lagerhaft verurteilt. Im Rahmen eines Gefangenenaustausches kam er schliesslich 2010 nach England.

«Wir haben Angst vor Putin», sagte Skripal im Interview. Sein eigenes Risiko schätzte er als gering ein. Möglicherweise, so Urban, wollte der russische Präsident mit dem Anschlag einfach eine Warnung an seine Landsleute abgeben: Lasst euch bloss nicht mit dem Westen ein! Denn es gibt auch Berichte, dass der Exilant Skripal sein Wissen an Geheimdienste in Estland oder Tschechien weitergegeben haben könnte.

Während die Skripals das Attentat überleben, kommt vier Monate später eine andere Frau durch Nowitschok zu Tode. Ihr Freund hatte nach eigenen Angaben in Salisbury einen Flakon mit dem Gift gefunden, das er für Parfüm hielt und seiner Partnerin schenkte. Sie starb qualvoll. Wer durch Grünflächen in der Stadt geht, hört noch heute die Rufe besorgter Eltern zu ihren Kindern: «Heb' hier nichts auf!»

Alexander Mischkin und Anatoli Tschepiga, die Verdächtigen im Fall des Attentats auf den russischen Ex-Doppelagenten Skripal, an einer Bahnstation.
Alexander Mischkin und Anatoli Tschepiga, die Verdächtigen im Fall des Attentats auf den russischen Ex-Doppelagenten Skripal, an einer Bahnstation.
Bild: AP

Pleite für den Militärgeheimdienst?

Ein halbes Jahr nach dem Attentat auf die Skripals benannte die Polizei zwei Russen als Verdächtige. Sie hatten sich in der Nähe von Skripals Haus aufgehalten, wie Videoaufnahmen zeigen. In ihrem Hotel in London wurden Spuren des chemischen Kampfstoffs nachgewiesen. Sie selbst gaben sich in einem Interview des russischen Staatssenders RT als Geschäftsleute aus, die nur als Touristen in England gewesen seien.

Alexander Petrow und Ruslan Boschirow nannten sie sich. Doch kurze Zeit später enttarnten Internetrecherchen sie als Alexander Mischkin und Anatoli Tschepiga, ranghohe GRU-Offiziere. Beide hatten in den vergangenen Jahren mehrfach Westeuropa besucht.

Eine Pleite für den Militärgeheimdienst? Oder ein kalkuliertes Risiko? «Es ging bei dieser Operation darum, einen Verräter zu töten und London ein Signal zu schicken. Da war das Aufsehen eher Teil des Plans als ein Fehler», schrieb der Experte Mark Galeotti in der Zeitschrift «Foreign Policy». Die Spur sollte nach Moskau führen.

Weniger einkalkuliert war wohl, dass findige Geister in Moskau dann weitere Passnummern, Meldedaten und Kfz-Register verknüpften. So wurden die Namen von etwa 300 mutmasslichen GRU-Agenten öffentlich.

Russlands Aussenminister Sergej Lawrow: Das britsch-russische Verhältnis befindet sich nach dem Gift-Attentat auf den Ex-Agenten Skripal auf einem neuen Tiefpunkt. 
Russlands Aussenminister Sergej Lawrow: Das britsch-russische Verhältnis befindet sich nach dem Gift-Attentat auf den Ex-Agenten Skripal auf einem neuen Tiefpunkt. 
Bild: DPA

«Langsam und extrem schmerzhaft»

Russland bleibt dabei, dass es mit dem Anschlag nichts zu tun habe. Und für jeden russischen Diplomaten, der wegen Skripal aus Grossbritannien, Deutschland, den USA und anderen Ländern ausgewiesen wurde, schickte auch Russland einen westlichen Diplomaten nach Hause – ein dutzendfaches Zug um Zug. Schärfere Sanktionen der USA stehen noch aus, denn Washington hat das Nowitschok-Attentat als Einsatz verbotener Chemiewaffen gewertet – wie im Kriegsgebiet Syrien.

Die westlichen Reaktionen gegen Russland fielen deutlich schärfer aus als nach dem grausamen Mord an dem saudischen Journalisten Jamal Kashoggi in Istanbul Anfang Oktober – vor allem für die USA ist das Königreich Saudi-Arabien ein wichtiger Handels- und Bündnispartner.

Und die Skripals? Sie sind wie vom Erdboden verschwunden, von Spezialisten in Sicherheit gebracht. Zuletzt meldete sich Julia Ende Mai in einem TV-Interview zu Wort. An ihrem Hals war eine grosse Narbe zu erkennen, denn wochenlang musste sie über einen Schlauch in der Luftröhre beatmet werden. Der Heilungsprozess sei «langsam und extrem schmerzhaft» gewesen, berichtete sie. Chronische oder spätere Schäden durch das Nervengift seien nicht ausgeschlossen, sagte der deutsche Chemiker Ralf Trapp – er arbeitete als unabhängiger Berater auch für die Organisation für ein Verbot der Chemiewaffen (OPCW).

Ob Julia Skripal jemals wieder in ihre Heimat reisen wird? Schon möglich, so Urban. «Julia hat ihren Freund und Hund in Russland zurückgelassen.» Aber: «Sergej Skripal wird niemals zurückkehren.»

Bilder des Tages
Zurück zur Startseite