Typischer EU-Kompromiss Brexit bis Halloween – Hängepartie statt Chaos

Verena Schmitt-Roschmann, Silvia Kusidlo, Teresa Dapp, Ansgar Haase und Michael Fischer, dpa/uri

11.4.2019

Die EU und Premierministerin May haben sich ein weiteres Mal zusammengerauft: Der Chaos-Brexit am Freitag ist abgewendet – mit einem typischen EU-Kompromiss. Aber wie geht es nun weiter?

Am Ende war es die Wahl zwischen Pest und Cholera und ein Ergebnis, mit dem niemand recht zufrieden sein kann. Der 31. Oktober ist die neue Frist für den Brexit, die bereits dritte nach dem 29. März und dem 12. April. Warum der neue Termin – ausgerechnet Halloween – nun besonders gut geeignet sein soll, um zu einem geordneten Ausstieg Grossbritanniens aus der Europäischen Union zu kommen, vermochte nach dem achtstündigen Brüsseler Verhandlungsmarathon in der Nacht zum Donnerstag niemand so richtig gut zu erklären.

«Um gerade auch den britischen Entscheidungsmöglichkeiten Raum zu geben, ist es eine gute Entscheidung, die wir heute getroffen haben», sagte zum Beispiel Bundeskanzlerin Angela Merkel. Es gehe darum, dass das drei Mal vom britischen Parlament abgelehnte Austrittsabkommen irgendwann doch angenommen werde. «Da kommt es auf den Tag aus unserer Sicht auch nicht an.»

Die Einigung von Brüssel ist ein klassischer EU-Kompromiss: May wollte den 30. Juni, EU-Ratspräsident Donald Tusk März 2020, dann war noch der 31. Dezember im Spiel. Schliesslich landete man irgendwo in der Nähe der Mitte.

Es ist vor allem auch ein Kompromiss zwischen zwei Protagonisten, die schon beim letzten Brexit-Sondergipfel die Extrempositionen vertreten hatten. Merkel hatte sich auf die Fahne geschrieben, dem Ziel eines geordneten Brexits alle anderen Interessen unterzuordnen. Macron liess die Option des Chaos-Brexits ohne Rücksicht auf Verluste bis zuletzt auf dem Tisch – und verärgerte damit die Runde. «Die Einigung hätte man auch viel früher haben können», hiess es anschliessend. «Frankreich hat sich heute Abend keine neuen Freunde gemacht.»

Theresa May, Premierministerin von Grossbritannien, spricht auf einer Pressekonferenz zum Abschluss des EU-Gipfels.
Theresa May, Premierministerin von Grossbritannien, spricht auf einer Pressekonferenz zum Abschluss des EU-Gipfels.
Bild: dpa

Ein Chaos-Brexit an diesem Freitag ist nun also abgewendet. Unabwägbare Folgen für die Wirtschaft und Millionen Bürger sind vorerst vom Tisch. Also fürs Erste keine Zollkontrollen an der irischen Grenze und keine Megastaus bei Dover oder Calais am Ärmelkanal. Keine Engpässe in Grossbritannien bei Arzneien, frischem Obst, Gemüse oder Klopapier. Kein Abriss von Lieferketten in der Industrie, keine Milliardenlasten auch für die deutsche Wirtschaft und die Steuerzahler. Das Schreckensszenario ist zumindest vertagt.

Doch um welchen politischen Preis? Ein EU-Mitglied, das vor knapp drei Jahren den Austritt beschloss und seither in quälender Selbstfindung nach dem richtigen Weg sucht, bleibt nur aus Angst vor einem Desaster noch länger an Bord. Es wird wohl Abgeordnete in das Europaparlament entsenden – nur um sie bald wieder nach Hause ins Vereinigte Königreich zu holen. Oder kommt am Ende doch wieder alles anders? Ein Überblick, was die Gipfelbeschlüsse bedeuten könnten:

... für die Europäische Union

Die EU hat nach zwei Krisengipfeln binnen drei Wochen nun zumindest eine Formel gefunden, die ihr «eine gewisse Ruhe» verschafft, wie es Merkel schon vor dem Treffen sagte. Grossbritannien könnte aber früher gehen, wenn in London endlich ein Konsens und eine Billigung des EU-Austrittsvertrags im Unterhaus gelingt. Premierministerin Theresa May hat dies noch nicht abgeschrieben. In dem Fall ginge der Austritt doch noch in den nächsten Wochen mit Vertrag über die Bühne. Es gäbe die vereinbarte Übergangsfrist bis mindestens Ende 2020, in der die künftigen Beziehungen zur EU geklärt werden.

Wahrscheinlicher ist allerdings Plan B: In London gibt es keine rasche Einigung und Grossbritannien muss sich, wie von der EU als Bedingung gefordert, an der für 23. bis 26. Mai geplanten Europawahl beteiligen. Immerhin kann die EU so weiter reibungslos funktionieren und sich so auch mal wieder um andere Themen kümmern. Es stehen wichtige Zukunftsentscheidungen an, etwa zur EU-Finanzplanung und zur Benennung des Spitzenpersonals.

... für die Europawahl

Die Teilnahme an der EU-Wahl ist allerdings die bittere Pille bei dem Gipfel-Beschluss – für beide Seiten, vor allem aber für die EU. Die voriges Jahr beschlossene Verkleinerung des Europaparlaments, die neue Verteilung von Mandaten an Länder wie Frankreich, Spanien oder die Niederlande: Alles läge vorerst auf Eis. Im neuen Parlament sässen 73 britische Abgeordnete auf Abruf, aber mit gehörigem Einfluss – etwa bei der Wahl des neuen Kommissionspräsidenten. «Demokratie ist Demokratie», stellte Parlamentspräsident Antonio Tajani beim Gipfel nüchtern fest.

Bei einem starken Abschneiden der britischen Labour-Partei hätte plötzlich der Sozialdemokrat Frans Timmermans bessere Chancen auf den EU-Topjob und könnte womöglich den Favoriten Manfred Weber von der Europäischen Volkspartei (EVP) aus dem Feld schlagen. Der sozialdemokratische Fraktionschef Udo Bullmann sieht das weit gelassener als Weber. «Natürlich, Labour wird stark sein, das wird uns nicht schwächen», sagte Bullmann am Rande des Gipfels. «Warum soll ich mich darüber beklagen?»

... für Premierministerin May

May wollte einen zweiten Aufschub, weil sie einen chaotischen Brexit ohne Deal vermeiden will. Aber schon ihr Vorschlag, die Frist bis zum 30. Juni zu dehnen, brachte die Brexit-Hardliner auch in ihrer eigenen Tory-Partei auf die Palme. Nun werden sie wohl noch lauter den Rücktritt der Regierungschefin fordern. May könnte es helfen, dass die Gemässigten fürchten, mit einem Brexit-Hardliner als neuem Premier könne alles nur noch schlimmer werden. Ihr Ziel ist, vor dem 22. Mai ihren mit der EU ausgehandelten Deal durchs Parlament zu bringen, damit die Briten nicht an der Europawahl teilnehmen müssen. Gelingt ein Abkommen, hat sie ihren Rücktritt in Aussicht gestellt.

... für die Brexit-Verhandlungen in Grossbritannien

Mays Regierung und die Labour-Opposition verhandeln seit vergangener Woche und wollen sich an diesem Donnerstag erneut treffen. Von konstruktiven Gesprächen und dem Willen zur Einigung ist viel die Rede – wo die Reise hingehen könnte, bleibt aber unklar. Labour-Chef Jeremy Corbyn will eine Zollunion und eine recht enge Bindung an die EU. Einerseits bleibt nun mehr Zeit für die Suche nach einem Kompromiss – andererseits ist der akute Druck erstmal weg. Es bleibt das grosse Problem, dass die Parteien selbst zerrissen sind, wenn es um den Brexit geht. EU-Freunde hoffen, die neue Frist zu nutzen, um ein Bündnis für ein zweites Referendum zu schmieden. Der Alt-Linke Corbyn wittert dagegen in einer Neuwahl seine Chance.

... für den Brexit

Nicht wenige EU-Politiker spekulieren, dass der Brexit nach dieser langen Vertagung doch noch gestoppt wird, zum Beispiel über ein zweites Referendum. Für die EU wäre das ein Erfolg. Denn die Abkehr der Briten schwächt die Gemeinschaft wirtschaftlich und strategisch. Doch zugleich wäre es ein grosses Risiko, falls das zerrissene Land ohne klares Bekenntnis zur EU bliebe und sich nur wieder in seiner alten Nische einrichtete zwischen Borke und Baum.

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