Duell

Retter der Debattenkultur oder reicher Troll?

Tut Elon Musk Twitter und der Meinungsfreiheit gut?

PRO

Pascal Wengi

Pascal Wengi

Social-Media-Experte blue News

Lieber Dirk, wie auch du habe ich die heiss diskutierte Twitter-Übernahme durch Tesla-Chef Elon Musk mitverfolgt und bin gespannt, ob und wie sehr der gebürtige Südafrikaner den Kurznachrichtendienst verändern wird. Einige sehen darin einen Sieg für die Rede- und Meinungsfreiheit, andere warnen vor der totalen Entgleisung der Hassrede im Internet.

Wo stehen wir heute in den sozialen Medien? So rosig und harmonisch wie es Musk-Kritiker*innen darstellen, ist die Welt von Twitter leider nicht.

Stand heute ist die Plattform kein Ort der kritischen oder offenen Debatten, sondern Heimat vieler grösserer oder kleinerer sogenannter Filterblasen. Gleich und Gleich gesellt sich eben gern und was ungleich ist, wird ausgeblendet oder – immer häufiger – gecancelt und gesperrt.

Für mich ist Social Media ein bisschen wie der Wilde Westen. Genau wie damals gibt es dann einige, die die Gesetze in die eigenen Hände nehmen wollen. Regelrechte Lynchmobs, die, ihrer eigenen Wahrnehmung nach, nur dem Allgemeinwohl zuliebe Gerechtigkeit dadurch fordern, in dem sie «Feinde des Guten» öffentlich hinrichten.

Im spezifischen Fall von Twitter wird das moderne Pendant dieser Lynchjustiz eher geduldet als bekämpft, da die Führung des in Kalifornien beheimateten Unternehmens oftmals die Ideologien der Leute mit den Mistgabeln und Fackeln teilt. Kurzum: Wer nicht gleich denkt wie die Betreiber und die grosse Masse, der gehört verbannt.

Twitter selbst gibt sich dabei zu wenig transparent, was die Community-Guidelines betrifft und spricht oft von undefinierten Begriffen wie «Hassrede» oder «Desinformation», wobei diese recht abhängig von deren Auslegung sind.

Anders als im echten Leben gibt es in den sozialen Netzwerken keine klaren Gesetze, sondern meist nur Richtlinien («Community-Guidelines»), an denen sich die Betreiber orientieren, um – nennen wir es beim Namen – zu zensieren und Leute von der Diskussion ausschliessen zu können. Eigentlich genau das Gegenteil von dem, was wir uns als freie, demokratische Welt auf die Fahne schreiben.

Dabei greift Twitter nicht selten selbst aktiv in politische Themen und Entscheide ein. Nehmen wir nur die ganzen Debatten rund um Corona. Egal, auf welcher Seite man dabei steht, kann man mit gutem Gewissen sagen, dass wir im Verlauf der Pandemie dazugelernt haben und sich einige «Wahrheiten» später als falsch erwiesen haben und wir im Nachhinein sicher klüger sind als vorher.

Doch ist es dann an einem privaten Unternehmen, eben genau diese Information zu bewerten, wenn sich selbst Expert*innen und Wissenschaftler*innen teils uneins sind? Sollte eine Plattform diese Macht besitzen zu entscheiden, was wahr und was gelogen ist?

Wegen genau solcher Geschichten ist es dringend notwendig, die Plattform zu reformieren und die Guidelines anzupassen. Mehr Transparenz. Was genau ist «Desinformation»? Welches Gesetz definiert «Hassrede»?

Und wenn diese Begriffe klar definiert sind, sollten sie härter verfolgt werden. Wer beispielsweise Gedankengut von Nazis teilt oder bewusst gegen Minderheiten hetzt, soll nicht nur blockiert, sondern auch strafrechtlich verfolgt werden.

Ich persönlich mag bei den meisten Themen mit den gecancelten «Querdenkern» nicht einig sein, aber ich würde alles dafür tun, dass diese Menschen dieselben Rechte betreffend der Meinungsäusserung besitzen wie ich, denn Zensur ist nicht die Antwort.

Wie es Tyrion Lannister in «Game of Thrones» treffend sagte: «Wenn ihr einem Mann die Zunge herausreisst, straft ihr seine Worte nicht Lügen, sondern lasst nur die Welt wissen, dass ihr sie fürchtet.»

Elon Musk gibt sich selber als «Feind» dieser Lynchjustiz und «Freund» der Meinungsfreiheit. Ich hoffe, er schafft es, dass auf Twitter wieder verschiedene Meinungen stattfinden können, ohne dass eine Seite fürchten muss, von der Debatte ausgeschlossen zu werden.

Denn was ist eine gute Debatte ohne Contra, lieber Dirk?

CONTRA

dj

Dirk Jacquemien

Redaktor Digital blue News

Manche Männer kaufen sich in der Midlife-Crisis ein neues Auto oder lassen sich scheiden. Wie du weisst, lieber Pascal, hat Elon Musk das alles schon mehrmals hinter sich, also kauft er sich ein 44-Milliarden-Dollar-Unternehmen. Und nicht irgendeines, sondern die Plattform, deren Rolle zentral ist in der öffentlichen Debatte der westlichen Welt: Twitter.

Auf Twitter werden US-Präsidenten gemacht und, wenn man dir folgt, menschliche Existenzen ruiniert. Es ist zwar nicht die Plattform mit den meisten Nutzer*innen, aber jene, auf der die Meinungsmacher*innen und jene, die sich dafür halten, am aktivsten sind. Kontrolle über Twitter bedeutet Kontrolle über einen grossen Teil des Diskurses in der modernen Welt.

Dass diese Kontrolle nun beim reichsten Troll der Welt liegt, lässt nichts Gutes erahnen. Elon Musks Motivation für den wirtschaftlich unsinnigen Twitter-Kauf ist nach eigenen Angaben die Meinungsfreiheit. Diese werde auf Twitter nicht mehr geachtet, die Plattform müsse eine «inklusive Arena» werden. Denn Twitter sei der Marktplatz der Demokratie in der digitalen Welt.

Was Musk als Erstes tun will, um die angeblich fehlende Meinungsfreiheit auf Twitter wiederherzustellen, verrät er nicht. Man kann jedoch erahnen, wo die Reise hingeht. Etwa zu Donald Trump, der gesperrt wurde, weil er den Mob zu einem Aufstand anstachelte. Dass privilegierte Menschen wie Trump, der neben Twitter unzählige andere Plattformen zur Verfügung hat, als Opfer der bösen Zensur dargestellt werden, ist lächerlich.

Vielmehr scheint es so, dass einige Gruppen — etwa reiche, weisse Männer wie Trump oder Musk — nicht wahrhaben wollen, dass auch ihnen Konsequenzen drohen, wenn sie Unsinn von sich geben. So wie Musk, als er das Ende der Corona-Pandemie im April 2020 voraussagte — der Tweet wurde weder gelöscht noch mit einer Warnung versehen.

Musk schien dennoch in permanenter Sorge zu leben, ihm könnte das Gleiche wie Trump widerfahren. Die Meinungsfreiheit, die für Musk am schützenwertesten ist, ist vor allem seine eigene. Bei Tesla hat er erst letzten Monat einen Mitarbeiter gefeuert, nur weil dieser ein Video von einer Privatfahrt mit seinem Tesla veröffentlichte, die die autonome Fahrfunktion des Fahrzeugs schlecht aussehen liess.

Selbst wenn man Musk noble Absichten unterstellt, hat er doch ein sehr naives Verständnis von Meinungsfreiheit. Einfach alles zuzulassen, führt eben nicht zu mehr Debatten und Austausch. Eine Schulklasse, in der der Klassenclown die ganze Stunde lang rumhampeln darf, wird kaum eine lehrreiche Diskussion durchführen können.

So dürfte es auch bei Twitter aussehen, wenn Musk seine Ankündigung umsetzt und wirklich alles erlaubt, was in den USA legal ist. Du, lieber Pascal, sagst, du willst Hetze auf Twitter nicht sehen, aber ob Musk das auch so sieht, ist alles andere als klar. Und Nazis werden keineswegs die Meinungsvielfalt erhöhen, sondern an echten Debatten interessierte Menschen von Twitter vertreiben.

Es gibt im Netz viele Beispiele von Plattformen, die sich der absoluten Meinungsfreiheit verschreiben, aber nur eine Ansammlung von Hass und Hetze sind. Häufig steckt hinter dem Ruf nach mehr Meinungsfreiheit nur der Wille, mit der krassesten Stimme die Diskussion zu dominieren und andere einzuschüchtern.

Vermutlich wird auch Musk irgendwann realisieren, dass gewisse Moderations- und meinetwegen Zensurregeln nötig sind, um Twitter einigermassen benutzbar zu halten. Und das ist nicht eine rein akademische Debatte. Auf Social-Media-Plattformen wurden, wie im Falle von Facebook und Myanmar, schon Genozide vorangetrieben.

Aber warum sollte ausgerechnet Elon Musk in der Lage sein, eine bessere Balance als die jetzige zu finden? Der Mann ist vollkommen unfähig, in Nuancen zu denken und zu handeln, wie sein Twitter-Feed jeden Tag beweist. Seine Unternehmen mögen Raumschiffe bauen. Aber die hören auf Naturgesetze, Mathe und Physik können ihre Funktionsweise erklären.

Den menschlichen Drang zum Streit zu verwalten, ist viel schwieriger. Ausser 44 Milliarden Dollar und der Überzeugung, die Wahrheit mit Löffeln gefressen zu haben, hat Musk keinerlei Qualifikation dafür. Das meine ich, lieber Pascal.