Sexarbeiterin«Ich habe schnell gutes Geld verdient, aber als Frau ist das nicht erlaubt»
Von Bruno Bötschi
23.7.2021
Eine Netflix-Serie zeichnet ein brutales Bild von der Prostitution. Die Zürcher Sexarbeiterin Clementine hat sich für «blue News» «Sky Rojo» angeschaut und erklärt im Interview, wie nah das Gezeigte an der Realität ist.
Von Bruno Bötschi
23.07.2021, 07:34
17.11.2023, 08:55
Bruno Bötschi
Auf dem Streaming-Dienst Netflix stürmte vor Kurzem «Sky Rojo» die Charts – die spanische Serie handelt von drei Sexarbeiterinnen. In Quentin-Tarantino-Manier wird darin die Geschichte von drei Frauen erzählt, die vor ihrem Zuhälter flüchten.
Bleibt die Frage: Wie viel hat «Sky Rojo» mit der Wirklichkeit zu tun? Ich frage bei einer Frau nach, die es wissen muss: Clementine, 40, Sexarbeiterin.
Clementine ist in Weissrussland geboren. Sie studierte Wirtschaft, als die Wende kam und der Kapitalismus ausbrach. Es sei eine wilde, hemmungslose Zeit gewesen.«Ich war jung und hübsch. Ich ging an Partys, tanzte, trank und rauchte. Die Männer luden mich gerne ein», erzählte Clementine vor einem Jahr in einem Porträt in der «Republik».
Nach einigen Monaten Gelegenheitsarbeit in einem Bordell in Polen lernt sie einen 20 Jahre älteren Unternehmensberater kennen. Die beiden verlieben sich, heiraten, ziehen bald darauf in die Schweiz. Clementine hört auf Wunsch ihres Mannes mit der Sexarbeit auf, die beiden planen eine Familie zu gründen.
Hinweis
Dieser Text erschien zum ersten Mal im April 2021 auf «blue News». Wir publizieren ihn aus aktuellem Anlass – zum heutigen Start der zweiten Staffel von «Sky Rojo» auf Netflix – erneut.
Die Ehe hält fünf Jahre lang, dann verlässt Clementine ihren Mann. In der Folge arbeitet sie als Barkeeperin, später als Croupière in einem Casino, bevor sie ins Milieu zurückkehrt. Heute schaffe sie wieder selber an und vermietet zudem an mehreren Standorten in der Schweiz Zimmer an Berufskolleginnen.
Welchen Eindruck haben Sie von der spanischen Netflix-Serie ‹Sky Rojo›?
‹Sky Rojo› sah ich mir erst an, nachdem ich Ihre Anfrage bekommen habe. Was mir dabei sofort aufgefallen ist: Die Serie eifert den Fantasien von Quentin Tarantino nach, ist jedoch bei Weitem nicht so ausgefeilt wie die Werke des US-amerikanischen Filmregisseurs. Aber ich gebe zu: Ich bin jemand, der gern in die Opposition geht, wenn alle über etwas jubeln.
Im Mittelpunkt der ersten Staffel von ‹Sky Rojo› stehen Coral (gespielt von Verónica Sánchez), Gina (Yany Prado) und Wendy (Lali Espósito), drei Sexarbeiterinnen, die die Flucht ergreifen, nachdem sie ihrem Zuhälter Romeo (Asier Etxeandía) in einem Bordell an einer Landstrasse auf Teneriffa den Schädel eingeschlagen haben. Wie finden Sie den Plot der Serie?
Ich bin seit 20 Jahren als Sexarbeiterin tätig und weiss deshalb: Die Geschichte hat nichts mit der Realität zu tun. Meine Erfahrung ist: Sexarbeiterinnen sind selbstständige, kluge Frauen, die wissen, was sie tun. Wäre ich nicht vom Fach, hätte mich ‹Sky Rojo› vielleicht amüsiert, die Serie bietet viel Action. Mich hingegen stiess die Geschichte von den drei Frauen öfter vor den Kopf. ‹Sky Rojo› zeichnet ein Bild der Sexarbeit, das ich so nie erlebt habe.
Gibt es auch Positives über die Serie zu vermelden?
Die drei Frauen sehen hübsch aus, werden nicht als dumm dargestellt und es wird wenigstens nicht behauptet, dass alle Frauen, die als Sexarbeiterinnen tätig sind, alkohol- oder drogensüchtig sind.
Ein Geheimnis der Schöpfer von ‹Sky Rojo› bleibt, warum die Frauen stundenlang in ihren Bordelloutfits flüchten müssen.
Das frage ich mich auch. An solchen Dingen merkt man, dass die Macher nicht die Realität zeigen wollten, obwohl in der Serie auch politische Themen angesprochen werden. Aber das bleibt alles sehr oberflächlich. Ich denke, damit will man Emotionen wecken und dafür sorgen, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer Mitleid mit den drei Sexarbeiterinnen bekommen.
Was halten Sie von der Rolle des Zuhälters Romeo?
Romeo ist ein Soziopath, der sich mit seinem Bordell ein Imperium aufgebaut hat, das ich so noch nie gesehen habe. So etwas gibt es in Wirklichkeit nicht. Sie müssen wissen: Als ich vor 20 Jahren in Polen mit der Sexarbeit begonnen habe, wechselte ich innert kurzer Zeit dreimal das Etablissement. Aber nicht, weil ich schlecht behandelt worden bin, sondern weil ich besser verdienen wollte.
Gegenüber der Sexarbeit gibt es viele Vorurteile …
… was mich nicht wundert, denn es geht dabei um das Intimste des Menschen, die Sexualität. Wenn sogar innerhalb vieler Partnerschaften nicht über Sex gesprochen wird, wie soll das in der Öffentlichkeit geschehen?
Da bleibt die Frage: Wem soll man zuhören, wenn es um Prostitution geht?
Ich kann nur über meine Erfahrungen reden. Fakt ist: Ich habe in all den Jahren noch nie ein Opfer der Sexarbeit getroffen. Arbeitet eine Frau aus freien Stücken als Sexarbeiterin, soll man das zumindest akzeptieren. Aber ich weiss natürlich, es gibt Opfer und die müssen ernst genommen werden. Wer ihre Geschichte hören, mehr Informationen dazu bekommen will, sollte sich an Xenia, die Fachstelle für Sexarbeit, oder an Maria Magdalena, das Beratungsangebot für Frauen im Sexgewerbe, richten. Ich behaupte jedoch, der weitaus grössere Teil der Frauen, die als Sexarbeiterin tätig sind, machen das selbst gewählt und absolut freiwillig. Weil diese Frauen jedoch sehr oft neben ihrer Tätigkeit als Sexarbeiterin ein offizielles Leben haben, erscheinen sie deutlich weniger in der Öffentlichkeit als die Opfer. Ich lese gerade das Buch ‹Piff, Paff, Puff. Prostitution in der Schweiz.› von Journalistin Aline Wüst. Sie schreibt, sie hätte für ihr Buch hundert Frauen getroffen, die sich aktuell prostituieren oder in der Vergangenheit Geld mit Sex verdienten, und dabei teils schlimme Zustände angetroffen. Hey, aber ich bin seit 20 Jahren in diesem Gewerbe tätig und habe auch viel gesehen – und ich muss Ihnen sagen: Ich habe, egal ob in Polen oder in der Schweiz, noch nie in einem schlecht geführten Studio gearbeitet.
Aus der Sicht von Prostitutionsgegnerinnen und -gegnern sind alle Menschen, die als Sexarbeiter*in tätig sind, Opfer.
Stopp, ich bin kein Opfer, ich bin nicht gestört und ich habe im Übrigen mehrere Berufsausbildungen absolviert. Als ich vor einigen Jahren in Zürich in einer angesehenen Bar als Bardame tätig war, hiess es, ich sei superintelligent. Ähnlich erging es mir, als ich in einem Schweizer Casino als Croupière arbeitete. Aber kaum bin ich wieder als Sexarbeiterin tätig, soll ich ein Opfer sein und dringend Hilfe benötigen.
Sie waren demnach mehrere Jahre nicht mehr im Rotlicht-Gewerbe tätig.
So ist es. Ich hatte andere Pläne, wollte eine Familie gründen – aber das hat leider nicht geklappt.
Ist die Arbeit als Sexarbeiterin ein Job wie jeder andere auch?
Nein, das ist er nicht. Aber auch ein Tiefseetaucher oder ein Chirurg hat einen extremen Job. Chirurgen werden zudem noch viel intimer mit ihren Patienten als wir mit unseren Gästen. Aber klar ist auch, nicht jede Frau erträgt den Job als Sexarbeiterin gleich gut.
Wie gesagt: Es hat mit meiner Familienplanung nicht geklappt. Ich habe mich deshalb mit 40 entschieden, an die Öffentlichkeit zu gehen und meine Geschichte zu erzählen, nachdem ich seit 20 Jahren mit dem Beruf der Sexarbeit verbunden bin und seit 13 Jahren an neun Standorten in der Schweiz Zimmer an Berufskolleginnen vermiete. Ich habe zudem ein Helfersyndrom und bin interessiert am Schicksal meiner Frauen.
Was braucht es, dass Frauen, die sich für den Beruf der Sexarbeit entscheiden, dabei keinen psychischen Schaden nehmen?
Fakt ist: Nicht die eigentliche Sexarbeit macht den Frauen am meisten Mühe, sondern die Vorurteile, die mit unserem Beruf verknüpft sind. Das ist auch der wichtigste Grund, warum ich an die Öffentlichkeit gegangen bin. Ich will Informationen über die Lebenswelt von Sexarbeiterinnen vermitteln, das Stigma reflektieren, das auf dieser Arbeit lastet, und Vorurteile abbauen. Wie gesagt: Die Scham über ihre Tätigkeit ist das, was die Sexarbeiterinnen viel mehr belastet, als die eigentliche Arbeit. Es ist das, was den Frauen wirklich schadet.
Viele Vorurteile gegenüber der Sexarbeit, denke ich, haben auch mit unserer christlichen Erziehung zu tun.
Das stimmt. Ich bin ganz froh, dass ich in Weissrussland aufgewachsen bin, also aus der ursprünglichen Sowjetunion stamme, und deshalb einen Vorteil habe: Ich kann nicht in die Hölle kommen, ich bin nicht christlich erzogen (lacht).
Wie viele Männer bedient eine Sexarbeiterin pro Tag?
Eine gute Frage. In ‹Sky Rojo› behauptet eine der Frauen irgendwann einmal, sie hätte 25 Männern den Penis lutschen müssen. Aber sorry, ein Tag hat nur 24 Stunden. Wie soll das also gehen?
Wie viele sind es in Wirklichkeit?
Im Durchschnitt bedienen meine Frauen und ich je zwei bis drei Gäste pro Tag. Wenn es an einem Tag einmal besonders gut läuft, sind es vielleicht sechs Männer, aber dann ist die Frau am nächsten Tag müde und nimmt sich frei.
Diese Frage wurde Ihnen sicher schon x-fach gestellt: Was machen Sie, wenn ein Gast stinkt?
Alle unsere Gäste gehen vor dem Date zuerst duschen, deshalb war das noch nie ein Problem.
Was ist einfacher: einem toll aussehenden jungen Mann Ihre Dienstleistungen anzubieten oder einem unattraktiven, älteren Herrn?
Das Alter eines Gastes ist nicht wichtig, viel wichtiger ist, dass ein Mann gute Manieren hat. Ja, er muss ein Gentleman sein. Meine Frauen und ich schätzen es, wenn wir als Ladys behandelt werden.
Wie viel Prozent Ihrer Gäste sind Gentlemen?
90 Prozent.
In den 20 Jahren, in denen Sie als Sexarbeiterin tätig sind, haben Sie demnach schon einige Männer erlebt, die keine Gentlemen waren.
Wir machen alle unsere Dates telefonisch ab. Ich spüre also bereits dann, wie sich ein Mann gibt. Ist mir einer bereits am Telefon nicht sympathisch, bekommt er keinen Termin. In meiner ganzen Karriere gab es bisher einen Mann, bei dem die Chemie nicht gepasst hat. Es gab keine Resonanz zwischen uns und deshalb gab ich ihm am Ende unseres Treffens von den bezahlten 300 Franken 200 wieder zurück.
Sie waren als Sexarbeiterin noch nie Opfer von Gewalt?
Nein. Aber in ‹Sky Rojo› gibt es diese Szene, in der ein Mann eine Frau schlägt, bis sie heult und sie danach zum Oralverkehr zwingt. Wissen Sie was, kein normaler Mann, ausser ein Soziopath, aber von denen gibt es zum Glück nicht so viele auf der Welt, will seinen Penis in den Mund einer Frau stecken, die weint. Das ist einfach nicht geil.
Die französische Autorin Emma Becker hat zwei Jahre lang in einem Berliner Bordell als Selbstversuch gearbeitet und danach den Roman ‹La Maison› geschrieben. Becker schreibt begeistert über ihre Arbeit als Sexarbeiterin, aber sie sagt auch: ‹Sex im Puff ist spiessig.›
Da hat sie nicht unrecht – der meistverkaufte Sex bei uns ist Girlfriend-Sex.
Wie bitte?
Blümchensex.
Wie oft wird der verlangt?
Bis zu 70 Prozent.
Was macht Ihnen am Job als Sexarbeiterin am allermeisten Spass?
Ich habe schnell gutes Geld verdient. Aber anscheinend ist das als Frau nicht erlaubt. Bei den Männern hingegen ist es egal, wie und wie schnell sie ihr Geld verdienen. Da wird sogar ein Manager bejubelt, dessen Firma mit Waffen handelt.
Welche Erinnerungen haben Sie an Ihren allerersten Freier?
Das war sehr amüsant.
Weil der Mann so gut im Bett war oder weil er Sie so gut bezahlt hat?
Ach, wissen Sie, ich war noch jung, 18 oder 19. Es war ein netter Club in Polen und wir haben zusammen getanzt. Es hat sich fast wie ein Spontan-Date angefühlt, aber es war uns beiden klar, dass wir uns kein zweites Mal treffen werden und dass ich für das Date zudem ein Honorar bekommen werde und deshalb fand ich es doppelt so geil (lacht).
Über den spanische Schmusesänger Julio Iglesias wird behauptet, er hätte 3000 Frauen verführt. Er selber sagt dazu, das sei eine Untertreibung. Verraten Sie, mit vielen Menschen Sie bisher geschlafen haben?
Sicherlich mit über 2000 Männern. Aber was spielt das für eine Rolle? Meine beruflichen Kontakte und das Leben von Sänger Iglesias kann man nicht vergleichen.