So überraschend, wenn nicht sensationell der Sieg der Young Boys über Manchester United in der Champions League anmuten mag, so ganz aus dem Nichts kommt die grossartige Leistung nicht.
Wenn Manchester United mit einem Mann weniger spielt, müssten die Young Boys und Manchester United ungefähr gleich stark sein. Sollte man meinen. Die Engländer sollten die Unterzahl mit ihrem Überangebot an herausragenden Spielern von Raphaël Varane bis Cristiano Ronaldo auf jeden Fall kompensieren können.
Am denkwürdigen Dienstagabend im Wankdorf war es überhaupt nicht so. YB war schon in den 35 Minuten vor dem Platzverweis gegen Aaron Wan-Bissaka besser und danach hoch überlegen, dem berühmten Gegner in den verbleibenden 70 Minuten keinen einzigen Abschlussversuch zubilligend. Nur zweimal aufs gegnerische Tor zu schiessen – so etwas ist Manchester United in all den Jahren in der Champions League nie passiert.
Nach dem ersten von sechs Spieltagen in dieser Gruppe F der Königsklasse ist andererseits noch nichts passiert. Manchester United bleibt Favorit und kann immer noch überlegener Gruppensieger werden, die Young Boys bleiben die Underdogs und können immer noch als Vierte und Letzte aus dem Wettbewerb ausscheiden. Und trotzdem: Die Berner haben einen vorzüglichen Match gezeigt, mit dem sie auch viele Kommentatoren auf der Insel verblüfften.
Es war eine Vorstellung, wie sie die Berner bei ihren ersten Auftritten in der Champions League, im Herbst 2018, nicht annähernd hatten zeigen können. Dabei war es doch damals der Herbst, in dem YB in der Meisterschaft fast nur gewann, aus 18 Super-League-Spielen 49 Punkte holte. In der Champions League waren sie nach 0:3-Niederlagen daheim gegen Manchester United und auswärts gegen Juventus Turin aber chancenlos. Den 2:1-Heimsieg gegen Juventus (und Cristiano Ronaldo) errangen sie am letzten Spieltag, als alles gelaufen war.
Reifezeugnis
Der jetzige grandiose Sieg zeugt davon, dass die Young Boys so reif geworden sind, dass sie – wie der FC Basel in seinen langen guten Zeiten – in Vergleichen mit europäischen Topmannschaften an einem guten Tag mithalten und eventuell gewinnen können. Dieser Reifeprozess begann nicht schon im Herbst 2018. Denn aus jener Mannschaft sind im heutigen Kader nicht mehr sehr viele dabei. In der Startformation jenes Heimspiels gegen Manchester United (0:3) standen Von Ballmoos, Camara und Fassnacht. Aebischer, Nsame und Sulejmani wurden eingewechselt, Garcia kam nicht zum Einsatz.
Keine Angst und kein Jammern
Der Prozess der Reifung hat sich vor allem in den letzten zwölf Monaten abgewickelt, in denen sich das Kader nicht verändert hat. Zu der Reife gehört, dass die Mannschaft, wie gerade erlebt, auch gegen Grosse ohne Skrupel auftritt und dass sie langfristige Ausfälle wie die der Schlüsselspieler Fabian Lustenberger in der Defensive und Jean-Pierre Nsame in der Offensive kompensiert.
Manchesters Trainer Ole Gunnar Solskjaer ist das Potential des Serienmeisters einer verhältnismässig kleinen europäischen Liga nicht verborgen geblieben. Der Norweger hatte beobachtet und sich informiert. Er lobte die Young Boys vor dem Match nicht mit Floskeln, sondern mit differenzierten Erkenntnissen. Mit der Aufstellung machte Solskjaer klar, dass er ein schwieriges Spiel erwartete. Er bekam Recht.
Spiegelbild Nati-Aufgebot
Die Entwicklung der Berner Mannschaft hat auch Nationalcoach Murat Yakin zur Kenntnis genommen. Cédric Zesiger, Ulisses Garcia, Sandro Lauper, Michel Aebischer und Christian Fassnacht, eine gelbschwarze Fraktion, gehörten zuletzt zu Yakins Kader. Am Dienstagabend war er im Wankdorf. Es ist nicht zu erwarten, dass er für die nächsten Aufgaben in der WM-Qualifikation im Oktober keinen der fünf YBler aufbieten wird.