Late Night USAMoskau besser als New York? «Frag Nawalny oder seine Anhänger»
Von Philipp Dahm
20.2.2024
Tucker Carlson hat in Moskau nicht nur Kremlchef Putin interviewt, sondern zeigt seinem Publikum auch gleich, wie sauber die U-Bahn ist und wie toll die Supermärkte sind. Jon Stewart will das so nicht stehen lassen.
Von Philipp Dahm
20.02.2024, 18:15
Philipp Dahm
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Bis zur US-Präsidentenwahl im November moderiert TV-Legende Jon Stewart jeweils montags die «Daily Show».
Stewart rechnet mit Tucker Carlsons Interview mit Wladimir Putin ab, beleuchtet aber auch weitere Clips, die der ehemalige Fox-News-Talker in Moskau gedreht hat.
Carlson liess Putin etwa die Aussage durchgehen, dass Polen selbst schuld am Naziüberfall 1939 gewesen sei, kritisiert Stewart.
Carlson lobe ausserdem die saubere U-Bahn und die russischen Supermärkte, während er staatliche Repression unerwähnt lasse.
Jon Stewart ist wieder da. Der 61-Jährige hat von 1999 bis 2015 die «Daily Show» auf Comedy Central moderiert – und ist damit zur Late-Night-Legende geworden.
Als Trevor Noah 2015 die Show übernimmt, engagiert sich Stewart politisch für die Opfer der Terroranschläge von 9/11 und ist zwischen 2021 und 2023 mit «The Problem with Jon Stewart» auf Apple TV+ zu sehen.
Seit dem 12. Februar ist der New Yorker zurück an seiner alten Wirkungsstätte: Bis zur Präsidentschaftswahl im November wird er immer montags durch die «Daily Show» führen. Die restlichen Wochentage übernehmen die Korrespondenten der Show: Jordan Klepper, Ronny Chieng, Michael Kosta, Desi Lydic und Dulcé Sloan.
Lügen und verschleiern
Stewart knüpft am 19. Februar an alte Zeitren an – einst hat Fox News ihn gefürchtet, weil er den Sender immer wieder bissig kritisiert hat. Jetzt nimmt er Tucker Carlson ins Visier: Das frühere Fox-News-Zugpferd hat mit seinem Interview mit Wladimir Putin für Schlagzeilen gesorgt.
Wie geht man mit so einem Interview um, fragt Stewart? Im Einspieler ab der 3. Minute sagt Carlson: «Warum wir das machen? Erstens: weil es unser Job ist. Wir sind Journalisten.» Stewart notiert sich das wie ein Schüler: «Lügen, was deinen Job angeht.»
Carlson sagt: «Im Journalismus ist es unsere Pflicht, die Leute zu informieren.» Stewart notiert: «Lügen, was deine Pflichten angeht.»
Carlson sagt: «Die Amerikaner haben ein Recht darauf, möglichst alles über einen Krieg zu wissen, in den sie verwickelt sind. Die Redefreiheit ist ein Geburtsrecht.» Stewart deutet eine Verbeugung an: «Hut ab, Sensei! Das war tiefschürfend, ich muss noch viel lernen.» Er notiert: «Verschleiere deinen Betrug und deine Kapitulation vor der Macht als nobel und moralisch.»
Polen selber schuld am Naziüberfall
Und was für ein Gesicht muss man machen, wenn man mit Putin redet, ohne dessen «ausgebrochenen S******» anzuzweifeln? «Oh, ich verstehe», sagt Stewart und macht bei Carlson einen Mix aus «Scham, Erregung und Unregelmässigkeit» aus. «Als würde man sich zusammenkauern, während man mit einem [Versandhaus-Katalog] onaniert.»
So ein Konzept könne funktionieren, glaubt Stewart – aber nur bei vagen Aussagen. «Aber was, wenn Putin Blödsinn redet wie ‹Polen ist schuld am Zweiten Weltkrieg, weil sie Hitler gezwungen haben, sie zu überfallen›?» Die Antwort liefert der Clip ab 5:07 Minuten: Da erklärt Putin, wie das Deutsche Reich nach dem Ersten Weltkrieg Teile Ostpreussens verlor.
Aus Danzig wurde damals Gdańsk. «Hitler bat sie freundschaftlich, es zurückzugeben, doch sie lehnten ab», referiert Putin. Und Carlson? Der sagt bloss: «Natürlich!»
«Das ist so schwer», spielt Stewart Bewunderung vor, «wenn dein Gesicht sagt ‹Was zur Hölle?› und dein Mund sagt ‹Natürlich!›.» Die Deutschen seien wahrscheinlich rückwärts einmarschiert, damit die Polen dachten, sie würden weggehen, frotzelt er.
«Du bist so ein A********»
Neben dem Interview beleuchtet Tucker Carlson auch den russischen Alltag – zu sehen ab 7:06 Minuten. Der 54-Jährige zeigt die Moskauer U-Bahn, die «schöner als alles» in den USA sei. «Es gibt kein Graffiti. Es gibt keinen Schmutz. Es gibt keine üblen Gerüche.» Stewart gibt zu: «Das ist eine verdammt schöne U-Bahn. Aber die U-Bahn ist ja bloss eine Sache.»
Also ist wieder Carlson an der Reihe – und der geht einkaufen. Er erklärt, dass man den Einkaufswagen mit einem Geldstück von der Kette löst. Die Münze sei auch ein Anreiz, das Wägeli wieder retournieren «und nicht ins Obdachlosenlager zu bringen». «Du bist so ein A********», kontert Stewart. «Ich habe nicht gewusst, dass das Obdachlosenproblem in den USA nur durch den einfachen Zugang zu Einkaufswagen verursacht wird.»
Carlson zeigt, wie sein Einkaufswagen dank der Rillen der Rolltreppe am Wegrollen gehindert wird: «Schau, Mama, ohne Hände.»
«Okay, Forrest [Gump]», meint Stewart: Ob Carlson auch bei automatischen Türen so durchdreht? Begeistert ist der Kalifornier auch vom russischen Brot und den Preisen: Der volle Einkaufswagen habe ihn gerade mal 104 Dollar gekostet.
Carlson radikalisiert
«In einen russischen Supermarkt zu kommen, das Herz des Bösen, und zu sehen, was die Dinge kosten und wie die Leute leben, wird sie gegen ihre Anführer radikalisieren», so Carlsons Fazit. «So fühle ich mich sowieso: radikalisiert.» Das klingt wirklich toll, meint Stewart – «bis man realisiert, dass Russen weniger als 200 Dollar pro Woche verdienen».
Ein Journalist hätte das in den Kontext gesetzt, wettert der Late-Night-Host. «Du weisst das alles», sagt Stewart zu Carlson., «denn du bist nicht so dumm, wie dein Gesicht uns glauben machen will.» Es gebe einen Preis, der für günstige Lebensmittel und aufgeräumte Strassen gezahlt werden müsse. «Frag Alexej Nawalny oder seine Anhänger.»
Late Night USA – Amerika verstehen
blue News
50 Staaten, 330 Millionen Menschen und noch mehr Meinungen: Wie soll man «Amerika verstehen»? Wer den Überblick behalten will, ohne dabei aufzulaufen, braucht einen Leuchtturm. Die Late-Night-Stars bieten eine der besten Navigationshilfen: Sie sind die perfekten Lotsen, die unbarmherzig Untiefen bei Land und Leuten benennen, und dienen unserem Autor Philipp Dahm als Komik-Kompass für die Befindlichkeit der amerikanischen Seele.
Es folgt ein Einspieler, der zeigt, wie Polizisten trauernde Russinnen und Russen verhaften. Stewart resümiert, dass der Unterschied zwischen der Moskauer und der New Yorker U-Bahn «buchstäblich der Preis der Freiheit» sei. Nur: Warum machen Leute wie Carlson solche Propaganda? «Sie glauben, dass es einen Kampf zwischen woke und nicht woke gibt. Und in diesem Kampf ist Putin ein Verbündeter der Rechten. Er ist ihr Freund», so Stewart.
Als die «New York Times» Carlson auf den Tod Nawalnys anspricht, nennt der das Ganze «entsetzlich» und «barbarisch und schrecklich»: «Keine anständige Person würde das verteidigen.»
«Korrekt», endet Stewart, «keine anständige Person würde das tun.»