Afghanistan IS-Ableger reklamiert Anschlag in Kabul für sich

dpa

27.8.2021 - 06:07

Rund um den Flughafen von Kabul hat es zwei Anschläge gegeben. Dabei sind mindestens 13 Menschen ums Leben gekommen. 12 von ihnen waren US-Soldaten. Ein IS-Ableger reklamiert die Taten für sich.

Der in Afghanistan aktive Ableger der Terrormiliz «Islamischer Staat» (IS) hat den Anschlag am Flughafen von Kabul für sich reklamiert. Dies verlautbarte IS-Khorasan, wie der IS sich in Afghanistan und Pakistan nennt, am Abend mit einer über das Internet verbreiteten Nachricht des IS-Sprachrohrs Amak.

Der IS war in Afghanistan Anfang 2015 aufgetaucht. Er will dort und auf pakistanischem Gebiet eine «Provinz» namens IS-Khorasan etablieren und hat Anschläge vor allem auf schiitische Ziele verübt. Die USA und afghanische Sicherheitskräfte griffen dessen Stellungen in vergangenen Jahren mitunter mehrmals wöchentlich an. Trotzdem verübte der IS weiter schwere Anschläge, intensivierte die Rekrutierung und versuchte, auch in Nordafghanistan Fuss zu fassen.

Mit den Taliban, die in Afghanistan vor gut einer Woche die Macht an sich gerissen hatten, ist der IS trotz grosser ideologischer Nähe verfeindet. Zuvor hatten unter anderem US-Präsident Joe Biden ausdrücklich vor einem Angriff durch einen örtlichen IS-Ableger in Afghanistan gewarnt.

13 US-Soldaten getötet

US-General Kenneth McKenzie, der das US-Zentralkommando Centcom führt, berichtete in einer Videoschalte mit Journalisten im Pentagon von 12 getöteten US-Soldaten. 15 US-Soldaten seien verletzt worden.

Die US-Streitkräfte setzen die Evakuierungsmission in Kabul auch nach dem verheerenden Terrorangriff am Flughafen der afghanischen Hauptstadt fort. «Wir führen den Auftrag weiter aus», so McKenzie weiter.

Angriff von zwei Selbstmordattentätern

Bei dem Terrorangriff haben sich nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums mindestens zwei Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt. Nach den Detonationen hätten eine Reihe von Kämpfern der Terrormiliz «Islamischer Staat» (IS) das Feuer auf Zivilisten und Soldaten eröffnet, erläuterte McKenzie.

Das US-Militär rechnet mit weiteren Angriffen der Terroristen. «Wir glauben, es ist ihr Wunsch, diese Angriffe fortzusetzen, und wir rechnen damit, dass sich diese Angriffe fortsetzen werden», so McKenzie. «Wir tun alles, was wir können, um auf diese Angriffe vorbereitet zu sein», sagte er. Dazu gebe es auch Gespräche mit den Taliban, die für die Sicherheit ausserhalb des Flughafens verantwortlich seien. Es handle sich um eine «extrem aktive Bedrohungssituation» in der mit weiteren Angriffen zu rechnen sei, sagte der General weiter.

Zuvor hatten die militant-islamistischen Taliban berichtet, mindestens 13 Menschen seien getötet und mindestens 52 weitere verletzt worden.

Reaktionen aus Europa

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach von einem oder mehreren Selbstmordattentätern und verurteilte die Bluttat als «absolut niederträchtig».

Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron verurteilte die Terroranschläge «auf das Schärfste». Der Präsident spreche den Familien der amerikanischen und afghanischen Opfer sein Beileid aus sowie den Verletzten seine Unterstützung, hiess es in einer Mitteilung des Élyséepalasts am Donnerstagabend.

Zugleich hob Macron den «heldenhaften Einsatz» derjenigen hervor, die sich vor Ort um den Erfolg der Evakuierungsoperationen bemühten. «Frankreich wird sie bis zum Ende durchziehen und seine humanitären und Schutzbemühungen für die bedrohten Afghanen fortsetzen.»

Deutsche Soldaten, Diplomaten und Polizisten ausgeflogen

Die deutsche Luftwaffe flog unterdessen alle Bundeswehrsoldaten, Diplomaten und verbliebenen Polizisten aus dem Krisenstaat aus, wie Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) nach dem Start der letzten Maschine sagte.

Die genaue Zahl der Anschlagsopfer blieb zunächst offen. Auf Videos waren zahlreiche Tote zu sehen; es wurde daher befürchtet, dass die Zahl der Opfer noch deutlich steigt. Pentagonsprecher John Kirby sprach auf Twitter von einer «komplexen Attacke». Merkel sagte, Terroristen hätten es auf Menschen abgesehen, die vor den Flughafentoren gewartet haben. Aussenminister Heiko Maas (SPD) sagte: «Wir haben zurzeit keine Informationen über deutsche Opfer.»

Laut Ex-US-Präsident Donald Trump hätte der Terroranschlag in Kabul «nie passieren dürfen». Er spreche den Familien der getöteten und verletzten Soldaten sowie den Angehörigen der zivilen Opfer sein Beileid aus, erklärte Trump am Donnerstag. «Diese Tragödie hätte nie passieren dürfen, was unsere Trauer noch grösser und schwerer zu begreifen macht», erklärte Trump.

Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan Mitte August hatte der Republikaner fast täglich Erklärungen verschickt, in dem er seinem Nachfolger, dem Demokraten Joe Biden, grosse Vorwürfe machte. In seiner jüngsten Stellungnahme zu dem Anschlag gab es aber keine offenen politischen Angriffe oder Schuldzuweisungen.

Taliban verurteilen den «grausamen Vorfall»

Der Sprecher des politischen Büros der Taliban in Doha, Suhail Schahin, erklärte, man verurteile den grausamen Vorfall aufs Schärfste und werde alles unternehmen, um die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Er bestätigte, dass sich zwei Explosionen ereigneten. Eine fand ersten Informationen zufolge an einem der Flughafentore statt, eine weitere bei einem nahe gelegen Hotel.

Der lokale Fernsehsender Tolo-News veröffentlichte auf Twitter Bilder, auf denen zu sehen ist, wie Verletzte in Schubkarren transportiert werden. Ein Augenzeuge erzählte dem TV-Sender, die Explosion sei sehr stark gewesen. Manche Menschen seien ins Wasser gefallen – an einem Gate ist ein langer Wassergraben – und mehrere ausländische Soldaten seien zu Boden gefallen.

Der gut vernetzte afghanische Journalist Bilal Sarwari schrieb auf Twitter, ein Selbstmordattentäter habe sich in einer grossen Menschenmenge in die Luft gesprengt. Mindestens ein weiterer Angreifer habe danach das Feuer eröffnet. Sarwari berief sich auf mehrere Augenzeugen in dem Gebiet.

Die Sicherheitslage rund um den Flughafen hatte sich zuletzt noch einmal deutlich zugespitzt. Die Bundeswehr hatte bereits am Dienstag berichtet, das zunehmend potenzielle Selbstmordattentäter der Terrororganisation «Islamischer Staat» (IS) in Kabul unterwegs seien. Ähnlich hatte sich US-Präsident Joe Biden geäussert.

Praktisch täglich versuche ein örtlicher Ableger des IS, den Flughafen anzugreifen, hatte er erklärt. Die Terrormiliz sei auch ein «erklärter Feind» der Taliban. Biden begründete unter anderem mit dieser Terrorgefahr auch sein Festhalten an dem Plan, die US-Truppen bis zum 31. August aus Afghanistan abzuziehen.

Dramatische Zustände rund um den Flughafen

Seit der Machtübernahme der Taliban versuchen Tausende Menschen, aus Angst vor Repressionen ins Ausland zu fliehen. Seit mehr als einer Woche versammeln sie sich rund um verschiedene Eingänge des Flughafens, um auf einen Evakuierungsflug zu kommen. Dabei herrschten rund um den Flughafen dramatische Zustände. Der Andrang stieg dabei noch einmal, wie ein Augenzeuge der Deutschen-Presse Agentur berichtete. Die Menschen stünden an einem Tor «so eng aneinander wie Ziegel einer Mauer», es gehe keinen Meter voran.

Nach der Explosion setzten US-Soldaten an einem anderen Flughafentor Tränengas ein, um die Menschen auseinander zu treiben, sagte ein Bewohner Kabuls, der an diesem Gate war. Er schätzte, zu dem Zeitpunkt seien dort 2000 bis 4000 Menschen gewesen, die auf einen Evakuierungsflug ins Ausland warteten. Mehrere Frauen und Mädchen seien durch das Tränengas verletzt worden.

Mehrere Attentäter abgefangen

Einige internationale Partner hatten die USA zu einer Verlängerung des Einsatzes aufgefordert, um noch mehr Zeit für die Evakuierungen zu haben. Der Militäreinsatz ist von den US-Truppen abhängig. Taliban-Kämpfer sollen an ihren Kontrollstellen im Umfeld des Flughafens bereits mehrere Attentäter des IS abgefangen und getötet haben, hiess es aus Militärkreisen.

Bundeswehr-Generalinspekteur Eberhard Zorn sagte am Donnerstag, dass die Bundeswehr seit Beginn des Einsatzes am 16. August 5200 Menschen aus 45 Nationen ausgeflogen habe. Darunter seien 4200 Afghanen und 505 deutsche Staatsbürger.

Kramp-Karrenbauer und auch Merkel betonten, dass die Bundesregierung weiter versuchen werde, schutzbedürftigen Menschen die Ausreise zu ermöglichen. «Wir beenden die Luftbrücke mit dem heutigen Tag», sagte Merkel. «Wir sind mit Hochdruck und Nachdruck dabei, eben Bedingungen auszuhandeln mit den Taliban darüber, wie weitere Ausreisen auch möglich sein werden.»

Guterres lädt zu Krisentreffen ein

Angesichts der chaotischen Situation und angespannten Sicherheitslage in Afghanistan lud UN-Generalsekretär António Guterres die Vetomächte zu einem Krisentreffen ein. Diplomatenkreisen zufolge sollen die Botschafter der USA, Chinas, Russlands, Grossbritanniens und Frankreichs am Montag in New York mit dem UN-Chef zusammenkommen, um sich über die Lage auszutauschen.

Unter anderem Belgien, Dänemark, Polen und Kanada stellten ebenso wie Deutschland ihre Evakuierungen inzwischen ein, Frankreich plante das für Freitag. Das US-Militär flog binnen 24 Stunden erneut mehr als 13.000 Menschen aus. Nach Angaben des Weissen Hauses flogen die USA und ihre Partner mehr als 95.000 Menschen aus. Auf dem US-Luftwaffenstützpunkt im pfälzischen Ramstein landeten dabei bis Donnerstag mehr als 14.500 Evakuierte.

Merkel sagt Israel-Reise ab

Kanzlerin Angela Merkel sagte ihre für Samstag bis Montag geplante Reise nach Israel wegen der dramatischen Entwicklung in Afghanistan ab. Die Entscheidung sei in Absprache mit dem israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennet getroffen worden, teilte Regierungssprecher Steffen Seibert mit.

Unterdessen brechen immer mehr Afghanen in Richtung Pakistan auf. Täglich überquerten mindestens 10'000 Afghanen die Grenze bei Spin Boldak/Chaman, sagte ein Grenzbeamter der dpa. Zuvor seien es an normalen Tagen etwa 4000 gewesen. Die meisten seien auf dem Weg zu Verwandten in Städten und Regionen unweit der Grenze. Pakistan hat seit 40 Jahren Millionen afghanische Flüchtlinge aufgenommen. Aktuell sind es 1,4 Millionen Afghanen, die als Flüchtlinge offiziell registriert sind, und etwa 600'000 undokumentierte Afghanen.

Auch die Balkanländer Albanien und Kosovo erklärten ihre Bereitschaft, insgesamt etwa 6000 Menschen zumindest vorübergehend aufzunehmen. Die EU-Innenminister wollen kommenden Dienstag zur Lage in Afghanistan beraten. Dabei soll es auch um Migrationsbewegungen in Richtung Europa gehen.

dpa