Bitten Stetter, Trendforscherin«Sterben ist keine saubere Sache»
Von Andrea Keller
22.5.2021
Kein Pflegeding, das nicht schaudert, kein Spitalhemd, das nicht Unbehagen auslöst: Bitten Stetter beobachtet und kreiert da, wo es noch viel zu tun gibt – am Lebensende.
Von Andrea Keller
22.05.2021, 14:19
22.05.2021, 14:57
Andrea Keller
«Mein Tag beginnt früh, zwischen fünf und sechs Uhr. Ich stehe auf, trinke Kaffee, schreibe, trinke Kaffee, Kaffee, schreibe. Aktuell arbeite ich an einem Artikel für «Swissfuture»; das ist das Magazin der Schweizerischen Vereinigung für Zukunftsforschung.
Parallel dazu beschäftigt mich meine Doktorarbeit – sowohl beim Artikel als auch bei der Doktorarbeit geht es um Sterbesettings*. Ich bin Teil eines achtköpfigen Forschungsteams, das sich dem Sterben aus vier unterschiedlichen Perspektiven annimmt: Design, Sprache, Religion und Pflege. Mein Zugang ist der des Designs.
Ursprünglich komme ich aus der Mode, ganz klassisch aus dem Modedesign. Mode ist für mich auch ein Seismograf des gesellschaftlichen Wandels. Schauen wir uns mal die Schuhe an: Dass in letzter Zeit mehr Frauen flaches Schuhwerk getragen haben als noch die Jahre zuvor, kommt nicht von ungefähr. Wir suchen Halt, wünschen uns Erdung, wollen uns schneller fortbewegen können, notfalls auch flüchten. Mit hohen Absätzen gehen wir auf Distanz zur Natur. So jedenfalls interpretiere ich das.
«Beschreibe dein Verhältnis zum Pflegehemd»
Auf meinem Pult herrscht das Chaos. Da sind unzählige Bücher und sogenannte «Cultural Probes» – Designforschungs-Tools. Ganz konkret: Ich bin mit Sterbenden ins Gespräch gekommen, habe aber auch Pflegerinnen und Pflegern ein Büchlein zur Hand gegeben. 44 Seiten, 33 Aufgaben. Eine davon lautet: «Beschreibe, skizziere und mappe dein Verhältnis zum Pflegehemd.»
Als Antworten kamen Begriffe wie hässlich, praktisch, jemand wird darin operiert, ein anderer stirbt da drin. Es sind auch zeichnerische Aufgaben im Büchlein enthalten: «Zeichne deinen bestehenden Arbeitsplatz. Wie sieht das Pflegearbeitszimmer aus? Was wäre wünschenswert?»
Mit Wünschen ist das so eine Sache: Sie orientieren sich immer an dem, was man kennt. Aus einer Design-Perspektive gesprochen lässt sich sagen, dass Bedürfnisse aus dem Jetzt heraus entstehen und in unserer Erfahrungswelt verhaftet sind.
Hätte früher jemand gefragt, ob wir ein echtes Bedürfnis nach einem iPhone haben, hätten wir wohl den Kopf geschüttelt: «All den Schnickschnack brauchen wir nicht. Telefonieren reicht doch.» Die Notizen und Beschreibungen all der Befragten helfen also in erster Linie, blinde Flecken zu erkennen und Kontroversen besser zu verstehen. Ich gestalte aber nicht direkt auf deren Bedürfnisse, weil ich nicht für heute gestalte, sondern für die Zukunft: Heute in fünf Jahren – wie könnten Sterbesettings dann aussehen?
Ich bin nicht die Ästhetik-Polizei
Jetzt ist acht Uhr. Entweder mache ich mich auf den Weg zur Schule – oder ich betrete den virtuellen Unterrichtsraum, was seit vergangenem Frühjahr zur Regel geworden ist. Das Thema, das ich am frühen Morgen beackert habe, begleitet mich auch hier. Einerseits gebe ich den Studierenden einen Einblick in meine Forschung, andererseits nehmen wir uns dem Wandel, auch dem Wertewandel in unserer Gesellschaft an und dabei auch dem veränderten Umgang mit der Endlichkeit des Lebens.
Tatsache ist: Wenn’s um den Tod geht, sterben die Traditionalisten aus. Wir haben es nun mit einer Generation der Baby Boomer zu tun, unter ihnen die 68er – und die wollen nicht wie ihre Vorfahren aus diesem Leben gehen, sondern selbst mitbestimmen und -gestalten. Spürbar ist zudem, wie sehr unsere Gesellschaft an der Unsterblichkeit arbeitet – medizinisch und technologisch. Für mich persönlich ist das ein Horrorszenario. Wir sind jetzt schon zu viele! Wenn kein Mensch mehr stirbt, dürfte auch keiner mehr zur Welt kommen. Ausserdem führt die Sehnsucht nach einem ewigen Leben zu einer noch stärkeren Verdrängung des Sterbens. Das finde ich nicht gut. Wir sollten uns damit konfrontieren, auch wenn’s herausfordernd ist.
Sterben ist keine saubere Sache. Es gibt Blut. Es gibt Flecken. Wer mit dem Sterben anderer konfrontiert ist, erlebt womöglich intime Situationen, die nicht schön sind. Ich wurde auch schon mit der Haltung konfrontiert, dass man das nicht dürfe, das Sterben «ästhetisch machen».
Meine Frage ist dann: Was hilft das Unästhetische?
Wenn wir uns diese weissen Windeln vorstellen, wenn wir uns Schnabeltassen vorstellen, wenn wir uns ungestaltete Räume vorstellen, dann macht uns das doch nur Angst. Warum also nicht versuchen, diese Bilder zu ändern? Nicht, dass man mich jetzt falsch versteht: Ich bin nicht die Ästhetik-Polizei, die Sterbenden vorschreiben will, dass sie dabei bitte ein schönes Hemd tragen sollen. Aber ich wünsche mir, dass wir wenigstens eine Wahl haben. Im Moment haben wir das nicht.
Grosse Widerstände überwinden
Wenn ich mit jungen Studierenden in ein Hospiz gehe, merke ich, dass einige grosse Widerstände überwinden müssen. Die meisten sagen dann aber rückblickend, dass es für sie gut und wertvoll war. Zudem beobachten die Studierenden, wie ich auch, dass es eine internationale Death-Positive-Bewegung gibt, da ein Wandel im Gange ist, den sie als angehende Designerinnen und Designer auch verfolgen und mitgestalten möchten. Ein grosses Thema für junge Menschen ist auch «Mental Health», also die psychische Gesundheit. Aber auch das Körperliche: gesunde Ernährung, beispielsweise.
Zur Person: Bitten Stetter
Prof. Bitten Stetter ist diplomierte Modedesignerin und arbeitet seit 1999 als selbständige Designerin. Ihre Arbeiten leben von der kritischen Auseinandersetzung mit Alltagskulturen, Lebensstilen und der Gestaltung der Zukunft. Als selbständige Designerin und Trendexpertin kooperiert sie mit verschiedenen Museen und Unternehmen. Seit 2005 ist sie in der akademischen Lehre in Deutschland und in der Schweiz tätig. Seit der Sterbebegleitung ihrer Mutter (2011 – 2015) befasst sich Stetter in diversen Vorträgen und Publikationen mit Sterben und Tod im Zeitalter des demografischen und digitalen Wandels, untersucht Dingwelten und Lebensstile am Lebensende, um Care-Design-Produkte und -Strategien zu entwickeln. bittenstetter.com und finalstudio.design
Apropos Essen: Das Credo, dass zwischen 12 und 13 Uhr Mittagszeit ist und da nicht gearbeitet wird, auch nicht unterrichtet, habe ich erst in der Schweiz kennengelernt. Ursprünglich stamme ich aus Hamburg. In meinem Umfeld, da haben wir mal um 11 Uhr, hin und wieder auch erst um 15 Uhr was gegessen. Auch hier und heute gehe ich über Mittag selten in die Kantine oder ins Restaurant. Ich bin froh, wenn ich mich mit einem Sandwich zurückziehen kann, kurz nur für mich sein und E-Mails abarbeiten.
Am Nachmittag geht’s weiter mit den Studierenden, oft in workshopartigen Settings. Auch da ist die Endlichkeit Thema – mal steht das Sterben der Natur, mal der soziale oder der eigene Tod im Zentrum. Für mich gehört er nicht nur zur Arbeit, sondern auch zum Leben. Ich bin auch schon früh mit ihm in Kontakt gekommen.
Vater starb, als ich elf war
Mein Vater starb bei einem Autounfall, als ich elf war. Das war sehr plötzlich. Meine Mutter ist vor ein paar Jahren gestorben, an einer Krankheit. Bei ihr hatte ich Zeit, mich zu verabschieden. Ich konnte sie in den Tod begleiten.
Aufgrund dieser Erfahrungen kann ich bezeugen: Es hat schon einen Wert, einen Menschen begleiten zu dürfen. Auf beiden Ebenen. Auf der Ebene der Betroffenen und der Angehörigen. Man kann mitreisen, sitzt am Bett, klärt Dinge, plant Dinge, gemeinsam. Und man trauert. Das Trauern beginnt früh, beginnt schon, wenn der Mensch noch da ist.
Bei diesem Prozess mit meiner Mutter wurde mir bewusst, dass die wenigsten von uns wissen, was am Ende eines Lebens geschieht. Bei mir war das auch so. Ich sass da und wusste gar nichts. Da fühlt man sich verloren. Und dann entstehen auch noch Krisen durch undurchdachtes Design. Unfunktionales Design. Meine Mutter hat bis zuletzt «Gute Besserung»-Karten erhalten. Warum?
Und der Nachttisch, beispielsweise, funktioniert am Schluss nicht mehr als Möbelstück für Patientinnen und Patienten. Da kommt der sterbende Mensch nämlich gar nicht mehr hin. Es gibt aber auch keinen Ersatz dafür. Bei meiner Mutter habe ich dann einen Fahrradkorb mitgenommen und am Bett montiert, in dem sie ihre Sachen reintun konnte. Das ist im Grunde «Emergency Design» – wobei man den Begriff oft dafür verwendet, wenn Menschen aus der Not heraus schnell reagieren und aus einer Wasserflasche eine Lampe bauen oder so was. Mir hat es sehr geholfen, etwas tun zu können.
Es gibt immer wieder Momente, in denen ich «hands-on» arbeite, auch bei meiner Forschung. Wenn ich ein neues Textil gestalte, bin ich in der Werkstatt und arbeite mit den Händen. Das ist für mich auch ein wichtiges Denkinstrument. Ich kann an keinem Ort konzeptionell so gut denken, wie wenn ich an meiner Nähmaschine sitze und da über Projekte nachdenke. Dinge zusammennähen, das kann ich im Schlaf. Neuerdings beschäftige ich mich auch mit Keramik. Mit diesem Schlamm zu arbeiten, ist toll. Überhaupt: Materialien in die Hand zu nehmen, die zu spüren.
Meine Arbeitstage können sehr lang sein, aber am Feierabend und am Wochenende gehe ich auch gern raus in die Natur. Jetzt, wo’s wieder länger hell ist, drehe ich auch gern noch eine Runde mit dem Kajak auf dem Zürichsee. Das ist eine grosse Leidenschaft von mir. Und dann zurück ans Ufer, dem Kajak beim Trocknen zuschauen, mit einem Drink in der Hand und zusammen mit Freunden. Den Tag so ausklingen lassen … das geniesse ich sehr.»
* Sterbesettings: Mit dem angewandten Forschungsprojekt «Sterbesettings» verschränken die Berner Fachhochschule (BFH) und die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) bisher getrennte Fachperspektiven zu einem innovativen, interdisziplinären Zugang.