Interview Grippeimpfung – «man könnte dadurch viel Leid verhindern»

Von Runa Reinecke

23.12.2019

Impftag des Schweizer Parlamentes: FDP-Ständerat Andrea Caroni (links) erhält einen Impfstoff gegen die Grippe.
Impftag des Schweizer Parlamentes: FDP-Ständerat Andrea Caroni (links) erhält einen Impfstoff gegen die Grippe.
Bild: Keystone

Die Grippewelle schlägt wieder zu. Wie zuverlässig wirkt die Impfung, wer sollte sich impfen lassen und wann können wir mit einem universellen Impfstoff rechnen, der vor allen Viren schützt? Ein Experte weiss Rat.

Jedes Jahr sterben in der Schweiz Hunderte von Menschen an den Folgen einer Grippeerkrankung.

Stefan Kuster, Leitender Arzt an der Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene am Universitätsspital Zürich, klärt über eine tückische Krankheit auf, die auch für gesunde Menschen lebensgefährlich werden kann. 

Herr Kuster, nicht jeder vertraut auf die Wirksamkeit der Influenzaimpfung. Da hört man Dinge wie: «Jetzt habe ich mich extra gegen Grippe impfen lassen und dann habe ich sie trotzdem bekommen …»

Hier müsste man erst einmal feststellen, ob es tatsächlich die echte Grippe war: Oft erkrankt man an einer Erkältung, einem sogenannten grippalen Infekt, und gegen den gibt es keinen Impfschutz. Auch eine Erkältung kann mit schweren, einer Grippe sehr ähnlichen Symptomen einhergehen. Bei jungen, gesunden Erwachsenen funktioniert die Grippeimpfung zu etwa 80 Prozent.

Weniger gut sprechen ältere Menschen darauf an oder Personen, deren Immunsystem, zum Beispiel aufgrund einer Chemotherapie, geschwächt ist. Weiter besteht die Möglichkeit, dass das Grippevirus mutiert ist, sich also derart verändert hat, dass die Impfung nicht mehr auf das Virus anspricht.

«Auch junge, gesunde Menschen können durch die Folgen einer Grippeerkrankung schwere Komplikationen erleiden oder gar sterben», sagt Stefan Kuster. 
«Auch junge, gesunde Menschen können durch die Folgen einer Grippeerkrankung schwere Komplikationen erleiden oder gar sterben», sagt Stefan Kuster. 
Bild:  Universitätsspital Zürich

Beginnt das Problem nicht schon bei der Produktion des Impfstoffs? Für jede Impfdosis braucht es ein angebrütetes Hühnerei, und nicht immer gelingt der Herstellungsprozess. Unter Umständen wird einem eine Impfdosis verabreicht, die wirkungslos ist …

Tatsächlich gibt es die Hypothese, dass Impfseren, die mithilfe von Eiern produziert werden, weniger zuverlässig sind. Nach wie vor ist diese Methode aber besonders verbreitet, obwohl Impfstoffe heute auch basierend auf Zellkulturen hergestellt werden können.

Diese sind in den USA oder in einzelnen europäischen Ländern erhältlich. Daneben gibt es noch die rekombinanten Impfstoffe. Dabei werden Bestandteile des Virus für die Impfung nicht aus echten Erregern, sondern künstlich hergestellt. (Anmerkung der Redaktion: Weitere Informationen dazu finden Sie im Anschluss an dieses Interview.)

Warum ist es wichtig, den Impfschutz jedes Jahr zu erneuern?

Im Impfstoff sind inaktivierte Bestandteile von Viren enthalten, sogenannte Antigene. Das Immunsystem erkennt diese als Angreifer und produziert Antikörper. Gelangt später das Grippevirus in den Organismus, dockt der Antikörper an das Virus an und zerstört es.

Damit das funktioniert, müssen die Antikörper zum jeweiligen Virus passen. Da die Oberflächenstruktur eines Influenzavirus mutieren, sich also relativ schnell verändern kann, muss jedes Jahr eine neue, passende Kombination der Antigene für den Impfstoff ausgewählt werden.


Die aktuelle Statistik des BAG zeigt: der epidemische Schwellenwert der Grippewelle ist bald erreicht.
Die aktuelle Statistik des BAG zeigt: der epidemische Schwellenwert der Grippewelle ist bald erreicht.
Quelle: Bundesamt für Gesundheit (BAG)

Gegen welche Viren geimpft wird, entscheidet ein Expertenkomitee im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation WHO. Weil die Herstellung mehrere Monate in Anspruch nimmt, muss man sich ein dreiviertel Jahr im Voraus festlegen. Da lässt sich sicher eine gewisse Prognose stellen, letztlich bleibt aber eine Unsicherheit, ob man sich für die richtige Kombination entschieden hat.

Und das ging vor zwei Jahren schief. Damals grassierte ein Grippevirus einer B-Stammlinie, die für die Impfung nicht berücksichtigt wurde. Erst seit letztem Jahr gibt es, anstatt des Dreifachschutzes, eine Vierfachimpfung, bei der zwei Stämme des Typs A und zwei B-Stammlinien abgedeckt werden. Wieso kam man nicht früher darauf, einen solchen tetravalenten Impfstoff einzusetzen?

Bei den B-Stammlinien hatte sich gezeigt, dass die Voraussagen über die vergangenen Jahre sehr unsicher waren, und das wurde in jüngster Vergangenheit mit der Einführung der tetravalenten Impfstoffe entsprechend korrigiert.

Wie wahrscheinlich ist es, dass man sich gegen die Grippe impfen lässt und ein Virus derartig mutiert, dass die Wirkung des Vakzins stark vermindert ist?

Es passiert alle paar Jahre, dass die Impfung nicht optimal schützt. Wenn man Pech hat, besteht ein Impfschutz für alle anderen Influenzaviren, die während der Saison im Umlauf sind, und ausgerechnet das Virus, das mutiert ist, zirkuliert in der Bevölkerung besonders stark.



Bei Personen mit geschwächtem Immunsystem wie auch bei älteren Menschen funktioniert die Grippeimpfung nicht in wünschenswertem Masse. Macht der Piks für diese Personengruppe überhaupt Sinn?

Im Vergleich zu einem jungen, gesunden Menschen ist die Immunantwort tatsächlich vermindert, aber immer noch besser als gar kein Impfschutz. Ein relevanter Schutz besteht dennoch, und das Risiko, schwere bis lebensgefährliche Komplikationen zu erleiden, ist damit geringer.

Seitens des Bundesamtes für Gesundheit BAG wird propagiert, gerade die Kranken und Alten sollten sich impfen lassen …

Um die Grippeepidemie relevant zu beeinflussen, müsste man die ganze Population impfen, ganz im Speziellen die Kinder. Bei Kindern ist die Influenza-Infektionsrate deutlich höher als bei Erwachsenen. Je mehr Gesunde geimpft sind, desto besser sind Menschen mit geschwächtem Immunsystem geschützt.

Die Grippe – eine Erfahrung, auf die man besser verzichtet.
Die Grippe – eine Erfahrung, auf die man besser verzichtet.
Bild: iStock

Ganz abgesehen davon können auch junge, gesunde Menschen durch die Folgen einer Grippeerkrankung schwere Komplikationen erleiden oder gar sterben. Es geschieht zwar selten, doch auch das erleben wir leider immer wieder.

Lässt sich diagnostisch feststellen, ob die Impfung funktioniert und das Immunsystem einen Schutz gegen die Grippeviren aufgebaut hat?

Theoretisch ist das möglich. Aber dieser Test ist aufwendig, weshalb er nur im Rahmen von Studien eingesetzt wird, zum Beispiel, um die Wirksamkeit eines neuen Grippeimpfstoffs zu prüfen.

Wie lange dauert es, bis der volle Impfschutz aufgebaut ist?

Etwa zwei Wochen.

Macht eine Impfung für diese Saison noch Sinn?

Auf jeden Fall! Der epidemische Schwellenwert wird in der Regel um den Jahreswechsel herum überschritten. Eine Grippewelle hält in etwa zwölf Wochen an.



Eine Impfung lohnt sich so lange, bis der Höchststand der Infektionen in der Bevölkerung erreicht wurde, danach dauert es noch etwa fünf bis sechs Wochen, bis die Welle abgeebbt ist, und dann ist eine Impfung nicht mehr sinnvoll.

Schon seit vielen Jahren wird an einem universellen Impfstoff geforscht, der gegen alle Grippeviren schützt. Wann ist damit zu rechnen?

Im Moment wird ein solcher Impfstoff mit dem Namen Multimeric-001 am Menschen im Rahmen einer Phase-3-Studie getestet. Verläuft die Studie erfolgreich, könnte man den Impfstoff im Idealfall innerhalb der nächsten wenigen Jahre auf den Markt bringen.

Bis es so weit ist, bleibt nur, sich jedes Jahr von Neuem impfen zu lassen …

Das stimmt, aber es lohnt sich. Wer sich gegen die Grippe impfen lässt, schützt nicht nur sich selbst, sondern auch andere, bei denen eine Impfung vielleicht nicht so gut funktioniert. Man könnte dadurch viel Leid verhindern; ein Solidaritätsgedanke, der mir in der Schweiz bei diesem Thema ein wenig fehlt.

Zur Person: PD Dr. Stefan Kuster ist Leitender Arzt an der Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene am Universitätsspital Zürich. Seine klinische Tätigkeit fokussiert auf der Prävention von spitalerworbenen Infektionen. Im Rahmen seiner Forschungsarbeiten beschäftigt er sich mit der Transmissionsdynamik von Grippeviren am Spital.


In der Schweiz verfügbare Grippeimpfstoffe: Wie Swissmedic, die Schweizerische Zulassungs- und Aufsichtsbehörde für Arzneimittel auf Anfrage von «Bluewin» mitteilt, ist hierzulande seit 2016 kein Grippeimpstoff mehr zugelassen, der nicht auf Hühnereibasis hergestellt wird. Hintergrund: Das besagte Vakzin (Optaflu) wurde zuvor von Novartis produziert. Die Pharmaunternehmerin hat das Impfstoffgeschäft vor mehreren Jahren komplett veräussert.


Grippewelle in der Schweiz

Zurück zur Startseite