Unterhaltsam war Nick Kyrgios schon immer, nun ist er auch noch nachhaltig erfolgreich. Der schmale Grat zwischen Genie und Wahnsinn gelingt ihm besser und besser. Vielleicht bis zum Titel am US Open.
Mitte des zweiten Satzes schlägt Nick Kyrgios einen Ball aus Frust zurück an die Bande. Nur ein paar Zentimeter höher, und er hätte einen Zuschauer voll ins Gesicht getroffen und wäre mit Sicherheit disqualifiziert worden. Fast noch kurioser eine Szene im dritten Satz. Medwedew trifft einen Volley am Rahmen, der fliegt hoch in die Luft und würde neben dem Feld auf der Seite des Russen herunterkommen. Kyrgios sprintet aber neben dem Netz durch, spitzelt den Ball aus der Luft in das Feld von Medwedew und freut sich diebisch über seinen Coup – bis ihn die Schiedsrichterin darauf hinweist, dass dies nicht erlaubt sei und er den Punkt verliere.
Es gibt sie also noch, die typischen Kyrgios-Momente. Spielball für Medwedew statt Breakchance. Der Lapsus könnte den Australier aus dem Konzept bringen, tut es aber nicht mehr. Er akzeptiert das Verdikt der Schiedsrichterin mit einem ungläubigen Lachen und lässt sich beim Seitenwechsel vom ehemaligen Profi Patrick McEnroe, der als Experte für den TV-Sender ESPN am Platzrand steht, in aller Ruhe die Regel erklären. Zwei Games später gelingt ihm das Break, das den dritten Satz entscheidet, dennoch.
Nicht mehr nur der Idiot
«Ich wusste echt nicht, dass dies nicht erlaubt ist», wird Kyrgios später erklären. «Jetzt sehe ich im Internet wie ein Idiot aus.» Er ist aber eben nicht mehr der Idiot, der sich lächerlich macht, sondern der geniale Tennisspieler, der für Unterhaltung sorgt, aber endlich auch konstant sein Potenzial abruft.
Kein Spieler hat seit der europäischen Sandsaison, die er komplett ausliess, mehr Spiele gewonnen: 22 (bei fünf Niederlagen). Der Wimbledon-Final, den er in vier Sätzen gegen Novak Djokovic verlor, hatte ihm bewiesen, dass er auch bei einem zweiwöchigen Grand-Slam-Turnier bis zum Ende dabei bleiben kann. Danach verstieg sich der 27-jährige Australier allerdings zur Aussage, das sei es nun vielleicht gewesen, er wisse nicht, ob er sich nochmals motivieren können. Es waren – zum Glück – leere Worte.
Welch riesiges Talent und welch ideale körperliche Voraussetzungen er mit seinem Gardemass von 193 cm hat, war spätestens klar, seit er 2014 als 19-Jähriger in Wimbledon Rafael Nadal schlug und in die Viertelfinals vorstiess. Ein halbes Jahr später gelang ihm das gleiche am Australian Open. Dabei trainierte er da noch kaum seriös. Kyrgios konnte mit dem Erfolg und den Erwartungen aber nicht umgehen. Zwischenzeitlich fiel er in ein tiefes Loch und war, wie er es selber ausdrückte, an «ganz dunklen Orten».
Kein Coach, aber ein gutes Team
In New York bedankte sich Kyrgios ausgiebig bei seinem Team. Einen Coach sucht man in diesem vergebens. Dafür die neue Freundin, mit der er seit Mai verlobt ist, und eine Menge Kumpels. Mit einigen von ihnen spielt er in der Freizeit Basketball. Auch der Tennisprofi Thanasi Kokkinakis gehört dazu. Mit seinem Landsmann gewann Kyrgios am Australian Open das Doppel. Eine Art Initialzündung, wie er zugibt. «Das gab mir den Glauben, auch im Einzel ein Grand Slam gewinnen zu können. Warum genau es in diesem Jahr Klick gemacht hat, versuche ich aber selber noch herauszufinden», rätselt er.
Offensichtlich ist, dass er fitter denn je ist und auch seinen Lebenswandel umgestellt hat. «Früher wäre ich noch ausgegangen, jetzt gehe ich zeitig ins Bett, achte auf meine Ernährung und versuche, alles zu kontrollieren.» Noch nicht immer im Griff hat der Sohn einer Malaysierin und eines griechisch-stämmigen Australiers seine Emotionen, doch er ist besser darin geworden, sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen.
Einen Coach hat er, wie er findet, nicht nötig. «Die sind teuer, und ich weiss nicht, ob sie das Geld wert sind», meint er. «Ich kenne mich und meine Schwächen selber sehr gut. Am Ende bin ich es, der die Arbeit erledigen muss.» Das tut er nun erstmals auch in New York so gut, dass er nach seinem Sieg gegen den Titelverteidiger und Weltranglistenersten Medwedew für viele zum Titelfavoriten Nummer 1 geworden ist.
Den ganzen Weg
«Ich nehme Spiel für Spiel», versichert Kyrgios. Das nächste ist am Dienstag gegen den als Nummer 27 gesetzten Russen Karen Chatschanow. «Aber klar. Nun möchte ich den ganzen Weg gehen.» Und dann kommt die Ansage, die allen Fans Angst macht. «Wenn ich hier gewinnen würde, dann wärs das wohl für mich.» Aber das sagte er ja schon nach dem Wimbledon-Final...
sda