Knapp drei Wochen sind vergangen, seit Michelle Gisin in Cortina d'Ampezzo heftig stürzte. In Crans-Montana gibt sie ihr Comeback in den schnellen Disziplinen. Sie will sich langsam herantasten.
26. Januar 2024, Cortina d'Ampezzo. Michelle Gisin springt vor der Delta-Kurve zu weit und in die falsche Richtung. Sie ist nicht die erste Athletin, die an dieser Stelle auf der Piste Olimpia delle Tofana Mühe bekundet. Aber so heftig wie sie fliegt an diesem Freitag keine ab. Mit über 100 km/h prallt sie in die Fangnetze. Der Airbag löst aus, ein Ski geht zu Bruch. Gisin humpelt gestützt von zwei Betreuern aus dem Zielraum, ist sichtlich mitgenommen.
Knapp drei Wochen später nimmt die 30-jährige Engelbergerin gut gelaunt Platz in der Medienrunde des Schweizer Teamhotels in Crans-Montana. «Stiftung Warentest sagt sehr gut, sehr gut plus», scherzt sie. Sprich: Michelle Gisin ist bereit für die beiden Abfahrten am Freitag und Samstag und den Super-G am Sonntag. Ihre Physiotherapeuten hätten einen tollen Job gemacht, Laser- und Stosswellentherapie die gewünschte Wirkung gezeigt.
Dass sie nach so einem Sturz nun hier sitzen könne, zeige einerseits, dass sie körperlich «extrem parat» sei. Gisin weiss aber auch, dass sie viel Glück gehabt hat. «Ich ging ungebremst ins Netz, weil ich auch nicht mit einem Sturz gerechnet habe. Nach dem Sprung wollte ich kompromisslos draufstehen, was aus mehreren Gründen nicht funktionierte. Dann hat es mich gefühlt einmal komprimiert.» Sie sei sehr beruhigt gewesen, als sie selbstständig habe aufstehen können. «Es hätte auch anders herauskommen können.»
Mahnende Beispiele innerhalb der Familie
15. Dezember 2018, Gröden. Marc Gisin wird auf der Piste Saslong ein Verschneider unmittelbar vor den Kamelbuckeln zum Verhängnis. Der ältere Bruder von Michelle stürzt fürchterlich, schlägt auf der pickelharten Piste auf und bricht sich unter anderem mehrere Rippen. Es ist nicht der erste heftige Abflug des Obwaldners. Vier Jahre zuvor stürzt er beim Super-G in Kitzbühel an der Hausbergkante und zieht sich ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma zu.
Nicht minder dick ist die Krankenakte von Dominique Gisin, der Ältesten des Trios. Sie reicht von mehreren Kreuzbandrissen über Kniescheibenbrüche und Gehirnerschütterungen bis zu einer Fraktur im rechten Knie.
«Meine Geschwister haben es ziemlich ‹härzig› gefunden, dass ich mit über dreissig auch mal im Netz gelandet bin», sagt Michelle Gisin scherzhaft. «Sie kennen es natürlich viel extremer.» Marc und Dominique – sie begleitet ihre Schwester seit deren ersten Schritten im Speed-Bereich – hätten ihr im mentalen Bereich viele Tipps geben können. «Wir haben den Sturzhergang gemeinsam analysiert. Es hilft wahnsinnig bei der Verarbeitung, wenn man in der Familie richtige ‹Experten› hat.»
Bei ihrem Comeback im Slalom in Soldeu vor Wochenfrist fuhr Gisin auf den hervorragenden 4. Platz und verpasste das Podest um lediglich fünf Hundertstel. Natürlich brauche es nach einem solchen Sturz im Slalom viel weniger Überwindung als in der Abfahrt.
Schritt für Schritt
15. Februar 2024, Crans-Montana. Die mentalen Wunden scheinen bereits verheilt. Die Narben aber kann Michelle Gisin in den beiden Trainings nicht ganz verbergen. Schwingt sie am Mittwoch noch mit 3,69 Sekunden Rückstand auf die Bestzeit ab und belegt Rang 46, büsst sie am Donnerstag als 24. 1,89 Sekunden auf die Trainingsschnellste Esther Ledecka ein.
«Ich bin sehr happy mit den beiden Trainingsläufen», sagte Gisin im Zielraum. Sie wolle im Speed «save» Schritt für Schritt gehen, sich die nötige Zeit geben. «Ich bin leider nicht so mutig wie andere und kann nach einem solchen Erlebnis nicht gleich wieder voll andrücken.» Natürlich würde sie gerne sofort wieder attackieren. «Aber das wäre nicht ich.» Statt den Schalter für die Rennen vom Wochenende umzulegen, dreht sie den Regler behutsam nach oben.
pavo, sda