Jahrestag der InvasionRussland-Kenner erklärt, was Putin ermutigt und mit welchem Trick er Verluste kaschiert
Von Philipp Dahm
24.2.2024
Putin: Mehr russische Kinder, damit das Land gedeiht
Der russische Präsident Wladimir Putin hat beim Besuch einer Panzerfabrik in der Uralregion den Mitarbeitern gesagt, dass russische Familien mindestens zwei Kinder zur Welt bringen müssten, um das ethnische Überleben des Landes zu gewährleisten. Und drei oder mehr Kinder sollten es schon sein, wenn das Land sich entwickeln und gedeihen soll.
23.02.2024
Am zweiten Jahrestag des Überfalls auf die Ukraine gibt es gleich mehrere Faktoren, die Wladimir Putin Mut machen. Russland-Kenner Ulrich Schmid erklärt, welche das sind – und warum das Volk nicht aufbegehrt.
Von Philipp Dahm
24.02.2024, 00:00
24.02.2024, 09:38
Philipp Dahm
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Russland-Kenner Ulrich Schmid hält fest, dass im Krieg in der Ukraine derzeit mehrere Faktoren Wladimir Putin ermutigen.
Dazu zählen ein möglicher Wahlsieg Donald Trumps, Ablenkung durch Israels Hamas-Krieg und Lieferungen aus Nordkorea.
Wirtschaftlich stehe der Kreml gut da, doch das Wachstum fusst vor allem auf Aufrüstung.
Schmid erklärt den Trick, mit dem Putin verhindert, dass russische Verluste im Volk zum Thema werden.
Dass Putin öffentlich sagt, er würde Biden Trump vorziehen, nennt Schmid eine «Heuchelei».
Ulrich Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen mit den Schwerpunkten russische Medientheorien und Nationalismus in Osteuropa. Der Zürcher lehrte oder lehrt an den Universitäten Bern, Basel, Bochum und Oslo.
In der Ukraine kommt Russland trotz hoher Verluste voran: Ist der zweite Jahrestag des Krieges für Wladimir Putin ein Grund zu feiern?
Wenn man Putins heutiges Auftreten mit dem im Sommer 2023 direkt nach dem Prigoschin-Aufstand vergleicht, kann man durchaus sagen, dass er neues Selbstbewusstsein geschöpft hat. Das heisst nicht, dass ein russischer Sieg unmittelbar bevorsteht, aber es gibt verschiedene Faktoren, die Putin jetzt ermutigen.
Welche Faktoren sind das?
Der erste Faktor ist natürlich, dass Putin mit einem Sieg von Donald Trump bei der Präsidentschaftswahl im November rechnet – mit den entsprechenden negativen Folgen für die amerikanische Unterstützung der Ukraine.
Auch der Hamas-Angriff auf Israel spielt Russland in die Hände. Gerade in Amerika gibt es ein Nullsummenspiel zwischen der Unterstützung für die Ukraine und für Israel – das fällt zu Ungunsten Kiews aus. Ein weiterer Punkt ist Nordkorea: Die Waffenlieferungen aus dem Land machen einen Unterschied aus. Man geht davon aus, dass die russischen Angriffe auf ukrainische Ziele hinter den Frontlinien im Dezember 2023 mit nordkoreanischen Raketen erfolgt sind.
Wie sieht es wirtschaftlich aus?
Russland steht relativ gut da, wenn man nur auf die Wirtschaftsdaten schaut. Das Wachstum muss man aber mit Vorsicht geniessen: Es wird vor allem durch die Rüstungsindustrie vorangetrieben, die rund um die Uhr arbeitet und Munition und Material in die Ukraine schickt. Es wird damit gerechnet, dass Russland 2024 und 2025 sechs bis acht Prozent des BIP für die Verteidigungspolitik ausgeben wird. Das kann man sich zwar leisten, aber das ist dennoch Geld, das für andere Staatsaufgaben fehlt.
Weiss das Volk um den Preis, den die Armee zum Beispiel für die Eroberung Awdijiwkas zahlt?
Nein. Es ist Putins bis jetzt erstaunlich gut gelungen, das Normalitätsversprechen von 24. Februar 2022 aufrechtzuerhalten. Man ahnt in der russischen Gesellschaft, dass dieser Krieg auch schmerzhafte Verluste als Opfer fordert, aber das ist nicht wirklich im Bewusstsein angekommen.
Woran liegt das?
Mit einer geschickten Rekrutierungspolitik ist es dem Kreml gelungen, die besonders kritischen Öffentlichkeiten in den beiden Metropolen Moskau und St. Petersburg zu beschwichtigen. Die Statistik der Einberufungen zeigt, dass dort sehr wenige eingezogen worden sind. Es gibt auch NGOs, die sich die Todeslisten angeschaut haben, und auch da kommen wenige der Opfer aus den urbanen Zentren.
Rechnen Sie damit, dass nach der Präsidentschaftswahl im März eine grössere Mobilisierung in Russland bekannt gegeben wird?
Das ist wahrscheinlich. Vielleicht nicht unmittelbar nach der Wahl, aber ich denke, in der zweiten Jahreshälfte wird es zu einer erneuten Teilmobilmachung kommen. Putin hat das Thema in seiner «Direkten Linie» im Dezember selbst angesprochen: Er sagte damals, es brauche zurzeit keine neue Mobilmachung. Entscheidend ist hier der Zusatz «zurzeit». Es ist klar, dass Russland zu wenig Soldaten hat. Nach dem ukrainischen Rückzug aus Awdijiwka fühlt sich Putin auch ermächtigt und ermuntert, neue Angriffspläne zu schmieden.
Anm. d. Red.: In «Direkte Linie» beantwortet Putin jährlich ausgewählte Fragen aus der Bevölkerung im TV.
Was macht eigentlich General Waleri Gerassimow?
Gerassimow gehört zu Putins Vertrauten, aber der muss ihn offenbar zeitweise aus der Öffentlichkeit entfernen. Interessant ist, dass es aber keine grösseren Rochaden mehr bei den russischen Befehlshabern in der Ukraine gibt. Es ist nicht das grosse Thema, so wie Anfang 2023, als General Sergei Surowikin abgesetzt wurde. Im Moment scheint Putin auf sein bewährtes und loyales Team zu setzen.
Und was macht Surowikin?
Zunächst stand er gerüchteweise unter Hausarrest, weil er angeblich zwar nicht mit Prigoschin unter einer Decke gesteckt hat, aber mehr über den Aufstand wusste, als er der Führung im Kreml mitgeteilt hat. Heute ist Surowikin von der Bildfläche verschwunden.
Wie wirkt sich die Kriegswirtschaft auf die Gesellschaft aus?
Die Lebensmittelpreise sind gestiegen. Die Inflation macht einen Zickzackkurs. Die Zentralbank versucht, die Inflation in den Griff zu bekommen. Der Währungszerfall ist eines der Traumata, das die russische Bevölkerung immer wieder heimgesucht hat. Ich erinnere an den Staatsbankrott 1998 und an die Abwertung des Rubels während der Finanzkrise 2008. Nach einem Absturz im Februar 2022 ist der Rubel heute auf tiefem Niveau einigermassen stabil.
Was sagt die Bevölkerung dazu?
Der Rubel ist gegenüber den ausländischen Währungen nur noch halb so viel wert wie vor dem Krieg. Das hat aber auch einen Vorteil: Bei den Erdölverkäufen ist Indien in die Bresche gesprungen, und Putin hat gleich zu Beginn des Krieges angeordnet, dass Rohstoffe mit Rubel bezahlt werden müssen. Bei einem schwachen Kurs spült das nominell mehr Rubel in die Staatskasse, mit denen man die Konsumenten füttern kann. Die fehlende Kaufkraft im Ausland fällt nicht gross ins Gewicht: 70 Prozent der Russen verfügen nicht über einen Pass. Die übrigen 30 Prozent, die vor dem Krieg im Ausland waren, können nun kaum mehr reisen, weil es keine direkten Verbindungen mehr nach Westeuropa gibt.
Glauben Sie Putin, wenn er sagt, dass er Joe Biden im Weissen Haus bevorzugen würde?
Nein, das ist Heuchlerei. Es ist klar, dass der Kreml erneut auf eine Trump-Präsidentschaft hofft. Putin hat sich bei dieser Frage einfach staatsmännisch gegeben und gesagt, man werde mit jedem Präsidenten zusammenarbeiten, den das amerikanische Volk wählt.
Sollte Kiew eine Verhandlungslösung des Krieges anstreben, wenn Trump gewählt wird?
Das ist eine schwierige Frage. Ich glaube, im Moment ist eine Verhandlungslösung für die Ukraine nicht akzeptabel – und zwar aus dem Grund, dass jede Verhandlungslösung ja eigentlich auf eine Belohnung der russischen Aggression hinausliefe. Eine Verhandlungslösung würde für den ukrainischen Präsidenten heute politischen Selbstmord bedeuten.
Im Video: ein MSNBC-Zusammenschnitt von Donald Trumps Kommentaren zu Wladimir Putin.