Bundesrat Berset blickt zurück – und nach vorn«Ich bin mehrfach an meine Grenzen gestossen»
Von Alex Rudolf und Gil Bieler
31.3.2022
«Geniessen Sie das Leben – aber es lohnt sich noch, aufzupassen»
Zurück zur «normalen Lage»: Der Bundesrat streicht auch die letzten Covid-Massnahmen per 1. April. Im Interview mit blue News spricht Bundesrat Alain Berset über die nächste Phase der Pandemie und Long Covid.
30.03.2022
Alain Berset war spätestens Ende Februar 2020 klar, dass etwas «sehr Grosses» auf die Schweiz zukommt. Im Gespräch mit blue News wird der Gesundheitsminister persönlich – und sieht das Land bereit für den Herbst.
Von Alex Rudolf und Gil Bieler
31.03.2022, 15:35
31.03.2022, 15:52
Alex Rudolf und Gil Bieler
Herr Bundesrat Berset, gibt es Situationen, in denen Sie auch weiterhin eine Maske tragen werden?
Das kann ich mir sehr gut vorstellen, beispielsweise, wenn ich Symptome verspüre. Nebst dem Tragen einer Maske würde ich dann natürlich auch einen Test machen.
In der ersten Welle rieten Sie den Menschen, sie sollten zu Hause bleiben. Nun raten Sie, man solle das Leben geniessen.
Wir hatten zwar in der Schweiz dank unseres Mittelwegs immer recht viele Möglichkeiten und Lebensqualität. Doch dieser verständliche, einfache Ratschlag war in der Zeit ohne viel Wissen über das Virus und Impfung richtig. Heute ist es anders. Die Pandemie ist nach wie vor da. Wir haben noch immer Tausende Ansteckungen täglich, und die Dunkelziffer ist noch deutlich höher. Aber die akute Phase ist vorbei. Wir müssen weiterhin wachsam sein, können nun jedoch die Pandemie im Rahmen der normalen Lage bewältigen. Wir dürfen nun auch loslassen und wieder eine fast umfassende Normalität einkehren lassen. Die Bevölkerung weist eine hohe Immunität auf, es gibt Impfungen und gute Medikamente.
Ihre eigene Partei, die SP, würde es vorziehen, einige Massnahmen noch zu verlängern. Hören Sie oft die Kritik, dass der Bundesrat zu schnell lockert?
Es gab Momente, da hiess es, die Massnahmen seien viel zu streng und es gab Momente, in denen sie als zu lasch bezeichnet wurden. Man hört vieles als Bundesrat. Der Bundesrat hat für jede Situation versucht, das beste Gleichgewicht zu finden, zwischen Schutz der Bevölkerung und Einschränkungen nur wo nötig. Heute ist es nun sinnvoll, alle Massnahmen auf Bundesebene aufzuheben. Die Kantone dürfen und – falls es notwendig ist – müssen Massnahmen ergreifen. Würden wir nicht heute in die normale Lage übergehen, wann denn sonst?
Ja, wann?
Der Bundesrat hat klare Kriterien: Seit August vergangenen Jahres, also seit die Bevölkerung uneingeschränkten Zugang zu einer Impfung erhalten hat, hat er immer gesagt, dass die Auslastung des Gesundheitssystems der Massstab ist. Seither ergriffen wir nur noch dann neue Massnahmen, wenn eine solche Überlastung tatsächlich drohte. Das war etwa im November und Dezember der Fall, aber nun ist eine Überlastung wirklich unwahrscheinlich.
Massnahmengegner feindeten den Bundesrat, aber im Speziellen Sie persönlich an. Mussten Sie um Ihre Sicherheit fürchten?
Genaue Angaben zur tatsächlichen Bedrohungslage gebe ich nicht bekannt. Es war wirklich nicht lustig. Harte Debatten sind nötig und richtig. Aber hier haben viele in der Verantwortung stehende Personen Entwicklungen erlebt, die gar nicht gehen.
In welchen Bereichen ist die Schweiz heute eine andere, als sie es vor zwei Jahren war?
Wir haben nun erfahren, was es bedeutet, als Gemeinschaft zu handeln, obwohl wir angehalten waren, die Kontakte zu reduzieren. Die Solidaritätswelle war am Anfang der Pandemie am sichtbarsten, das Gemeinschaftsgefühl wurde aber stets weitergetragen. Denn auch bei der Impfung machten viele aus Solidarität mit, obwohl sie diese aus eigener Sicht nicht zwingend gebraucht hätten. Das zu sehen, hat mich sehr beeindruckt. Es wurde viel über Spaltung geredet. Aber eigentlich haben wir viel Solidarität und Rücksichtnahme erlebt.
Das BAG hat die Kampagne für Impfung und Booster eingestellt, obwohl rund 30 Prozent der Bevölkerung noch immer ungeimpft sind. Haben Sie aufgegeben, diese Leute überzeugen zu wollen?
Inzwischen wissen wir, dass es keine grosse Rolle mehr spielt. Denn fast alle Ungeimpften haben sich zwischenzeitlich angesteckt. Dies mag ein unkontrollierter Weg sein, aber auch er führt zu einer Immunisierung der Bevölkerung. Die Bevölkerung wusste, dass alle entweder per Impfung oder sonst mit dem Virus in Kontakt kommen werden. Ich frage Sie: Haben wir mit der Impfung die beste Antwort auf die Pandemie gefunden? Ich finde, ja. Es gibt tatsächlich Leute, die kritisieren, dass man sich trotz Impfung anstecken kann. Sie ziehen daraus den Schluss, dass die Impfung nichts bringe. Dass sie aber hocheffektiv ist, zeigt der Vergleich zwischen Hongkong und Neuseeland.
«Andere Länder begannen früher mit dem Booster und dessen Wirkung war im Winter bereits wieder reduziert, so dass sie im Januar bereits mit der zweiten Auffrischimpfung begannen. Unser Ziel ist es, den optimalen Zeitpunkt zu finden.»
Können Sie das erklären?
Beide Länder erleben derzeit eine Explosion der Ansteckungen, doch es gibt einen Unterschied. In Neuseeland hat sich die Anzahl Todesfälle kaum verändert, während sie in Hongkong stark höher ist als in allen anderen Ländern seit Pandemiebeginn – und das trotz Omikron. Bei genauerer Betrachtung sieht man, dass die Impfung der Grund dafür ist. In Neuseeland sind die allermeisten Älteren – wie es auch bei uns der Fall ist – gegen das Virus geimpft. In Hongkong sind die Älteren tendenziell seltener geimpft als die Jüngeren. Warum dies so ist, weiss ich nicht.
Deutschland beginnt schon mit dem zweiten Booster, in der Schweiz gibt es noch keine Empfehlung. Verlieren wir hier wertvolle Zeit?
Bei diesem Thema lautet das Prinzip nicht: je früher, desto besser, sondern zum richtigen Zeitpunkt. Im vergangenen Jahr wurde kritisiert, dass die Schweiz zu spät dran sei mit dem Booster. Doch am Schluss standen wir besser da, weil die Boosterkampagne mit einem Anstieg der Fallzahlen zusammenfiel. Andere Länder begannen früher mit dem Booster und dessen Wirkung war im Winter bereits wieder reduziert, sodass sie im Januar bereits mit der zweiten Auffrischimpfung begannen. Unser Ziel ist es, den optimalen Zeitpunkt zu finden. Über die Impfung entscheidet jeweils die zuständige Kommission der Fachleute. Und zudem: Hält es ein Arzt für notwendig, einem Patienten eine zweite Auffrischimpfung zu verabreichen, dann kann er das schon heute tun.
Hatte die Schweiz auch Glück mit den Impfstoffen, die Sie eingekauft haben? Diesen Entscheid mussten Sie zu einem sehr frühen Zeitpunkt fällen.
Ende Februar 2020 war klar: Da kommt etwas sehr Grosses auf uns zu. Und schon im März hat das BAG erste Gespräche mit Impfstoffherstellern geführt. Damals gab es weit über hundert vielversprechende Impfstoff-Projekte. Und ich bin sehr stolz darauf, dass die Verantwortlichen auf die richtigen Impfstoffe gesetzt und schon sehr früh die ersten Verträge abgeschlossen haben. Wir haben auf unterschiedliche Produkte gesetzt, hatten auch AstraZeneca und Novavax eingekauft. Aber auch sehr früh mit Moderna und Pfizer auf die besten Impfstoffe gesetzt, die am frühesten bei uns zugelassen waren. Auch das ist sicherlich ein Grund, warum wir heute so eine gute Situation haben. Eine Mehrheit der Bevölkerung ist mit Moderna geimpft, dies im Unterschied zu den umliegenden Ländern.
Ab dem 1. April ist die Pandemie wieder hauptsächlich Sache der Kantone. Bundesrat und Kantone haben sich in der Pandemie immer wieder den Schwarzen Peter zugespielt: Wie oft haben Sie sich über die Kantone genervt?
Ich nerve mich eigentlich nicht so schnell, auch nicht über die Kantone. Wir hatten einen so intensiven Austausch wie noch nie zuvor. Phasenweise führte ich an einem Tag zehn bis zwanzig Telefonate mit Regierungsrätinnen und Regierungsräten – das ist eine ganz neue Dimension. Als Schwarz-Peter-Spiel habe ich das nie wahrgenommen.
Sondern?
Der Bund hat sich nie gescheut, Verantwortung zu übernehmen. Als der Bundesrat am 28. Februar 2020 die besondere Lage ausgerufen hat, geschah dies, weil damals nicht alle Kantone die politische Kraft hatten, Grossveranstaltungen abzusagen. Wir haben das gemacht, weil es eine starke Antwort brauchte. Der Bund hat auch viel investiert für die Bekämpfung der Pandemie: Die Jahresrechnung des Bundes war 2020 und 2021 negativ, während sie bei vielen Kantonen positiv ausfiel. Das zeigt: Wir haben das Maximum gemacht, aber nach zwei Jahren müssen wir wieder zu einer normalen Situation und einer normalen Aufgabenteilung zurückfinden.
«Phasenweise führte ich an einem Tag zehn bis zwanzig Telefonate mit Regierungsrätinnen und Regierungsräten – das ist eine ganz neue Dimension.»
Sie wurden Anfang März positiv getestet. Wie haben Sie den Krankheitsverlauf erlebt?
Ich bin dreifach geimpft, aber war jeweils ziemlich früh dran, auch mit dem Booster. Mit Omikron war natürlich klar, dass ich mich trotz Befolgung der Hygienemassnahmen anstecken kann. Und nach den Lockerungen vom 16. Februar habe ich etwas weniger aufgepasst, das sage ich offen. Ich habe also in Kauf genommen, dass es passieren kann – und es ist passiert. Aber der Verlauf war bei mir sehr mild.
Die Bewältigung der Pandemie hatte Sie körperlich belastet, sagten Sie vergangene Woche in einem Interview. Wie zeigte sich das?
Wir mussten hier, genau an diesem Tisch, unvorstellbare Entscheidungen treffen. Die Gastrobranche oder die Schulen zu schliessen, das ist brutal. Man weiss ganz genau, dass solche Entscheidungen riesige Konsequenzen haben. Diesen Druck und die viele Arbeit spürt man auch körperlich, ist angespannt. Immerhin konnte ich immer gut schlafen, doch gab es immer wieder Phasen, da mussten viele sieben Tage die Woche und auch in der Nacht arbeiten. Einmal zu Beginn der Krise gab es in Italien mitten in der Nacht eine wegweisende Entscheidung. Da mussten auch wir rasch reagieren. Ich bin daher mehrfach an meine Grenzen gestossen.
Wie gingen Sie mit dem Druck um?
Ich habe früher sehr viel Sport gemacht, auch an Leichtathletik-Wettkämpfen teilgenommen. Da lernt man sich gut selber kennen. Man spürt, wenn es nicht mehr geht – das hat mir auch jetzt geholfen.
«Die Frage muss sein: Wie lassen sich am besten Erfahrungen sammeln, um den Betroffenen zu helfen? Wenn ein Register hierbei matchentscheidend sein sollte, dann muss man sicher darüber diskutieren.»
Die Präsidentin der wissenschaftlichen Covid-Taskforce, Tanja Stadler, sagte im Interview mit blue News, die Luftqualität in Innenräumen sei im weiteren Pandemieverlauf entscheidend. Wo kann der Bundesrat die Kantone in diesem Bereich unterstützen?
Wir haben schon sehr früh in der Pandemie klargemacht, was man tun muss, um die Luftqualität zu steigern. Regelmässig lüften etwa. Aber nun liegt es in der Verantwortung der Kantone, das umzusetzen: Wenn sie wollen, können sie eine Kampagne zum Thema Luftqualität in den Schulen durchzuführen.
Nehmen Sie Long Covid genug ernst?
Ja, aber wir wissen über diese Krankheit noch sehr wenig – zudem sind die Symptome sehr divers. Wie häufig etwa Long Covid in Zusammenhang mit der Omikron-Variante auftritt, ist noch unbekannt. Es wird viel Forschung betrieben, nicht nur in der Schweiz, sondern international – und aus all diesen Erkenntnissen müssen wir lernen. Denn es gibt Personen, die mit unterschiedlich starken Folgen einer Covid-Erkrankung zu kämpfen haben. Für sie gute Antworten liefern zu können, das wird eine grosse Aufgabe in der nächsten Phase.
Sind Sie für ein nationales Long-Covid-Register?
Die Frage muss sein: Wie lassen sich am besten Erfahrungen sammeln, um den Betroffenen zu helfen? Wenn ein Register hierbei matchentscheidend sein sollte, dann muss man sicher darüber diskutieren. Aktuell ist es dafür aber noch zu früh. Im Moment wird Long Covid sehr dezentral erforscht, durch Universitäten oder Forschungszentren auf der ganzen Welt. Wenn wir diese Forschungsergebnisse kennen, können wir entscheiden, ob es noch zusätzliche Massnahmen braucht.
Vor einem Jahr haben Sie gesagt, der Bundesrat habe schon zweimal die Kontrolle über das Infektionsgeschehen verloren. Wie lässt sich verhindern, dass das erneut passiert?
Eine perfekte Kontrolle konnten wir nie haben über das Virus, das hat niemand. Ein Kontrollverlust wäre es, wenn man keine Handlungsmöglichkeiten mehr hat – doch die hatten wir immer. Wenn eine Verschlechterung der Situation drohte, haben wir härtere Massnahmen eingeführt. Für den kommenden Herbst haben wir eine völlig andere Ausgangslage als noch vor zwei Jahren: Es gibt genug Impfstoff für alle. Fast alle Einwohnerinnen und Einwohner sind immunisiert, sei es durch Impfung oder Infektion. Wir haben ausserdem gute Medikamente. Und viertens haben wir uns alle viele neue Kompetenzen und Wissen angeeignet und bereiten uns bereits jetzt auf den nächsten Winter vor. Wir sind alle Hobby-Epidemiologen geworden, und dieses Verständnis hilft auch in der weiteren Pandemie.
Worauf freuen Sie sich am meisten im Frühling?
Schönes Wetter, gemütliche Terrassen und ab und zu ein Bier.