Nach Anschlag in Moskau Warum der IS Kämpfer aus Tadschikistan rekrutiert

AP

27.3.2024 - 19:48

Vermutlicher Moskau-Attentäter im Basmanny Bezirksgericht.
Vermutlicher Moskau-Attentäter im Basmanny Bezirksgericht.
Bild: IMAGO/SNA

Mindestens 140 Menschen verloren bei dem Terroranschlag auf eine Konzerthalle bei Moskau ihr Leben. Verdächtigt werden Männer aus Tadschikistan. Ein Blick auf die Menschen, militanten Gruppen und die politische Geschichte hinter der Attacke.

27.3.2024 - 19:48

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Die vier Männer, denen das Massaker in der Konzerthalle Crocus City Hall im Moskauer Vorort Krasnagorsk zur Last gelegt wird, sollen Bürger Tadschikistans sein.
  • Neben bitterer Armut ist Tadschikistan von religiösen Spannungen geplagt.
  • Den vier Verdächtigen, die am Sonntagabend in einem Moskauer Gericht vorgeführt wurden, wird Terrorismus zur Last gelegt.

Die vier Männer, denen das Massaker in der Konzerthalle Crocus City Hall im Moskauer Vorort Krasnagorsk zur Last gelegt wird, sind von den russischen Behörden als Bürger Tadschikistans identifiziert worden. Das Land ist eine der ärmsten ehemaligen Sowjetrepubliken. Jedes Jahr migrieren von dort Tausende Menschen nach Russland.

Neben bitterer Armut ist Tadschikistan von religiösen Spannungen geplagt. In einem Bürgerkrieg in den 1990er-Jahren waren islamistische Hardliner eine der zentralen Kräfte, die sich gegen die Regierung stellten. Zu dem Anschlag bei Moskau mit mindestens 140 Toten hat sich ein Ableger der Terrorgruppe Islamischer Staat bekannt, der Islamische Staat Provinz Chorasan. Berichten zufolge rekrutiert die Gruppe im grossen Stil Kämpfer in Tadschikistan.

Den vier Verdächtigen, die am Sonntagabend in einem Moskauer Gericht vorgeführt wurden, wird Terrorismus zur Last gelegt. Sie wiesen Anzeichen von Folter auf, die mutmasslich während ihrer Gefangenschaft entstanden. Einer wurde in einem Krankenhauskittel auf einer fahrbaren Trage hereingerollt. Der russische Präsident Wladimir Putin beschrieb die Verdächtigen am Montag als «radikale Islamisten». Zudem wiederholte er seinen Vorwurf, dass die Ukraine bei dem Massaker eine Rolle gespielt haben könnte – ungeachtet der anderslautenden Beteuerungen aus Kiew.

Ein Blick auf die Menschen, militanten Gruppen und die politische Geschichte hinter der Attacke von Moskau:

Die vier Verdächtigen

Der älteste Angeklagte ist der 32-jährige Dalerdschon M., der möglicherweise illegal in Russland lebte. Im Gerichtssaal war er in einem Glaskäfig mit einem blauen Auge und von Prellungen gezeichnetem Gesicht zu sehen. Berichten zufolge hatte M. eine dreimonatige Aufenthaltsgenehmigung in der Stadt Nowosibirsk erhalten. Diese war abgelaufen.

In einem Video seiner Vernehmung, das in russischen sozialen Medien kursierte, sagt er Berichten zufolge, er habe jüngst mit einem weiteren Verdächtigen in einem Hostel in Moskau gelebt. Nach Gerichtsangaben ist er verheiratet und hat vier Kinder. Ob er einen Job hat, war unklar.

Der 30-jährige Saidakrami Murodali R. ist offenbar arbeitslos. Er ist als Einwohner Russlands registriert, konnte sich aber laut russischen Medienberichten nicht daran erinnern, in welcher Stadt. Als er vor Gericht erschien, war sein Kopf auf seltsame Weise bandagiert. Einem Bericht zufolge hatten ihm russische Beamte ein Ohr abgetrennt.

Der 25-jährige Schamsidin F. hatte offenbar die stabilsten Lebensumstände unter den vier Angeklagten. Er war in Krasnogorsk gemeldet, dem Moskauer Vorort, in dem das Massaker seinen Lauf nahm. Er arbeitete in einer Bodenbelagsfabrik. Angeblich sagte er Ermittlern, dass ihm für die Attacke 500'000 Rubel geboten worden seien (etwa 5000 Euro), was ungefähr dem Durchschnittslohn von 2,5 Jahren in Tadschikistan entspricht.

Muchammadsobir F., 19 Jahre alt, wurde auf einer Trage und mit einem Katheter in den Gerichtssaal gebracht. Eines seiner Augen war verletzt oder fehlte. Er schien immer wieder das Bewusstsein zu verlieren. Er hatte als Lehrling in einem Friseursalon in der im Niedergang begriffenen Textilstadt Iwanowo gearbeitet. Berichten zufolge hängte er den Job im November an den Nagel.

Islamische Spannungen in Tadschikistan

Schätzungsweise 1,5 Millionen tadschikische Migranten sind vor der Armut in ihrem gebirgigen Heimatland nach Russland geflüchtet. Es gibt eine Reihe von Bodenschätzen in Tadschikistan, doch die Industrie entwickelt sich wegen später Investitionen aus dem Ausland und schlechten geologischen Daten nur schleppend. Die Bevölkerung von fast zehn Millionen Menschen ist überwiegend muslimisch, doch sind Spannungen im Zusammenhang mit dem Islam an der Tagesordnung.

Islamisten spielten als Gegner der Regierung eine wichtige Rolle in einem Bürgerkrieg, der von 1992 bis 1997 tobte. Die Regierungstruppen töteten dabei schätzungsweise 150'000 Menschen und legten die Wirtschaft in Trümmer. Als der Krieg endete, ergriff Präsident Emomali Rahmon Massnahmen für eine drastische Einschränkung der religiösen Freiheiten.

Die Regierung begrenzte die Zahl der Moscheen, die gebaut werden durften, und verbot Frauen und Minderjährigen den Besuch von Moscheen gänzlich. Religionsunterricht für Kinder ausserhalb des Hauses wurde untersagt. Kritiker sagen, die Einschränkungen hätten Menschen dazu ermutigt, sich muslimischen Fraktionen im Untergrund und im Internet zuzuwenden.

Tadschikistan hat keine offizielle Erklärung zur Verhaftung der vier Verdächtigen abgegeben. Rahmon wurde jedoch von der Pressestelle seiner Regierung dahingehend zitiert, dass er Putin in einem Telefonat gesagt habe: «Terroristen haben weder eine Nationalität noch ein Heimatland oder eine Religion.»

Islamischer Staat gegen Russland

Die meisten der Anschläge in Russland mit einem islamistisch-extremistischen Hintergrund in den vergangenen 25 Jahren wurden von tschetschenischen Separatisten verübt – oder ihnen zur Last gelegt. Das gilt etwa für die Geiselnahme an einer Schule in Beslan im Jahr 2004, bei der mehr als 300 Menschen getötet wurden. Verantwortlich gemacht wurden tschetschenische Separatisten auch für die Bombenanschläge auf Wohngebäude im Jahr 1999, die den zweiten russisch-tschetschenischen Krieg auslösten.

Russland sucht Drahtzieher des Terroranschlags

Russland sucht Drahtzieher des Terroranschlags

Die mutmasslichen Täter sitzen hinter Gittern. Jetzt sucht Moskau nach den Hintermännern des tödlichen Terroranschlags. «Wir wissen, dass das Verbrechen von radikalen Islamisten begangen wurde», sagt Kremlchef Wladimir Putin am Montagabend. Doch nunmehr wolle Russland wissen, «wer der Auftraggeber ist».

26.03.2024

Angriffe, die im Jahr 2015 begannen, wurden dem Islamischen Staat zugeschrieben oder von diesem für sich reklamiert. Die Gruppe trachtet unter anderem nach Rache für die russische Intervention im syrischen Bürgerkrieg, die das Kräfteverhältnis zugunsten von Präsident Baschar al-Assad kippen liess. Die US-Regierung hat erklärt, ihr lägen Geheimdiensterkenntnisse vor, dass der IS für den Anschlag vom Wochenende in Moskau verantwortlich sei.

Nachdem der IS im Juni 2014 ein Kalifat in weiten Teilen Syriens und des Iraks ausgerufen hatte, schlossen sich Tausende Frauen und Männer aus aller Welt den Extremisten an. Darunter waren auch Tausende aus der früheren Sowjetunion, unter ihnen Hunderte Tadschiken.

Eine der prominentesten Figuren, die sich dem IS anschloss, war Gulmurod Chalimow. Vor seinem Überlaufen zu der Terrororganisation – er schloss sich 2015 in Syrien dem IS an – war er Offizier der tadschikischen Spezialkräfte. Nach Angaben des russischen Militärs wurde er 2017 bei einem russischen Luftangriff in Syrien getötet.

Der IS reklamierte auch den Anschlag auf ein russisches Flugzeug für sich, das im Jahr 2015 überwiegend russische Touristen aus dem ägyptischen Urlaubsort Scharm el Scheich nach Hause bringen sollte. Alle 224 Menschen an Bord wurden getötet. Zwei Jahre später beanspruchte der IS auch die Urheberschaft an einem Selbstmordanschlag auf eine U-Bahn in St. Petersburg für sich. 15 Menschen wurden getötet.

Zwei Wochen vor dem Massaker in der Moskauer Konzerthalle sagten russische Behördenvertreter, sie hätten die Mitglieder einer IS-Zelle ausgelöscht, die einen Angriff auf eine Synagoge geplant habe. Im März berichteten russische Behörden, in der an Tschetschenien angrenzenden Region Inguschetien seien sechs IS-Kämpfer getötet worden.

AP