Kritik Wofür Bestsellerautor Rolf Dobelli keinen Sinn hat

Von Michael Angele

4.10.2019

Lebt seit zehn Jahren ohne News: Bestsellerautor Rolf Dobelli.
Lebt seit zehn Jahren ohne News: Bestsellerautor Rolf Dobelli.
Bild: Keystone

Der Schweizer Schriftsteller Rolf Dobelli will in seinem neuen Buch eine Glücksformel durch ein komplett nachrichtenfreies Leben verkaufen – und scheitert.

Das neue Buch des Schweizers Rolf Dobelli müsste mir eigentlich gefallen. Es ermuntert uns, keine News mehr zu konsumieren, sondern «sehr lange» Artikel zu lesen und Bücher. Nichts dagegen, und doch gefällt es mir nicht.

Warum?

Dobelli würde vermutlich sagen, dass ich mich so über sein Buch ärgere, zeigt, wie süchtig ich in Wahrheit bin, und ich könnte ihm noch nicht einmal widersprechen. Natürlich bin auch ich 'süchtig' nach News. Nicht nach allen, aber gewissen. Bei mir sind es «News» aus der Fussballwelt. Überflüssiges Zeugs, das heisseste Transfergerücht oder jene Spekulation über das gestörte Verhältnis eines Nationaltrainers zu seinem Schlüsselspieler.

Ich empfinde das als relativ harmlose Sucht. Aber die gibt es bei Dobelli nicht. Unter den Leiden eines Alkoholikers macht er es nicht. Hilfe verschafft nur Abstinenz. Vorbild ist seine eigene Läuterung. Das Buch funktioniert nach dem erfolgreichen Muster der Bekenntnisliteratur: Sünde – Umkehr – Bekehrung der Mitmenschen.

Nun kann man meinetwegen gern auf Transfergerüchte oder auch die zwanzigste News über Boris Johnson verzichten. Aber Dobelli geht weiter: Man sollte nicht nur auf die zwanzigste News über Boris Johnson verzichten. Man sollte überhaupt auf News über den Brexit verzichten. Man kann's ja eh nicht ändern. «99 Prozent aller News liegen ausserhalb Ihres Einflussbereichs», das ist sein Mantra.



Dobelli macht meines Erachtens einen Grundfehler: Er unterscheidet nicht zwischen News und Nachrichten. News machen süchtig, Nachrichten enthalten Informationen über die Welt.

Dobelli und sein Gedankenexperiment

Es stimmt, dass Nachrichten für mein persönliches Dasein oft nicht direkt von Bedeutung sind. Das sollen sie auch gar nicht. Und dafür hat Dobelli keinen Sinn. Er fordert uns zu einem Gedankenexperiment auf. Man solle sich eine «persönlich relevante Ausgabe der Tagesschau» vorstellen. Klar, sie enthielte nur Dinge, die einen selbst oder seine Familie betreffen, vielleicht gerade noch eine Reportage über die Stadt, in der man lebt. Sie wäre also für andere tatsächlich irrelevant. Aber darum geht es halt nicht. Die Tagesschau berichtet idealerweise über das, was alle angeht. Man nennt das die Öffentlichkeit. Sie kommt in diesem Buch nicht vor.

Dobelli hat ein scheinbar radikales, aber völlig unpolitisches Buch geschrieben. Seine Radikalität ist aus der Managerliteratur bekannt: zwei Monate Kloster und alles wird besser – für dich. Dobellis Guru heisst Warren Buffett. Von Buffett stammt die Theorie des «Kompetenzkreises». Sie besagt, geh in dich, prüfe, was für dich wichtig ist und verzettele dich nicht. So kann man Karriere machen. Aber so lässt sich kein Gemeinwesen aufbauen.

Denn so wenig wie die Nachrichten in vielen Fällen meine Lebensführung tangieren, so wenig tangiert meine Lebensführung umgekehrt die Politik. Dass ich mit dem Rauchen aufgehört habe, trägt nichts zum besseren Verhältnis der Schweiz zur EU bei. Es ist auch keine Meldung wert. Platz hat so etwas nur in einer Kolumne wie dieser.



Aber solche Feinheiten sind nicht Dobellis Sache. So wie er nicht zwischen News und Nachricht unterscheidet, so hat er auch eine populistische Ansicht über Fake News. «News lösen sich zunehmend von der Wahrheit ab.»

Mehr News als Fake News

Bei Wörtern wie «immer mehr» oder «zunehmend» ist Vorsicht angebracht. Würde auch nur ein Gutteil der «immer mehr» Behauptungen zutreffen, wäre unsere Welt zugleich vollkommen verstopft und vollkommen leer. Es gibt immer mehr Fake News? Vielleicht, aber vielleicht gibt es auch immer mehr News, und zwar immer noch mehr News als Fake News, womit es proportional dann auch wiederum «immer weniger» Fake News gäbe usf.

Dabei will ich gar nicht leugnen, dass uns die News-Industrie vor grosse Probleme stellt. Dobelli hat halt nur die Sorte Literatur geschrieben, die sperrangelweit offene Türen einrennt. Ich selbst würde für einen gelassenen Umgang mit dem Problem plädieren.

Sagen wir mal so: regelmässig am Tag eine aufgeräumte Website wie bluewin.ch, einmal die Woche eine Wochenzeitung, dazwischen ein bisschen Promiklatsch oder so – und den Rest, nein, nicht Fernsehen, sondern Radio.

In der Schweiz und in Deutschland haben wir – noch – eine hervorragende öffentlich-rechtliche Radiokultur. Sie erfüllt alles, was sich auch Dobelli wünscht: «Push-Meldungen» und dergleichen? Fehlanzeige. Dafür gibt es  wohldosierte Nachrichten, dazu Features mit Tiefgang, Hintergrundberichte etc. Diese Radiokultur wird von uns allen viel zu wenig gewürdigt.

Aber bei diesem Buch, das uns eine Glücksformel durch ein komplett nachrichtenfreies Leben verkaufen will, fällt es mir gerade besonders schmerzlich auf.

Bibliografie: «Die Kunst des digitalen Lebens», Rolf Dobelli, Piper, ca. 21.50 Fr.

Der Berner Michael Angele liefert regelmässig eine Aussenansicht aus Berlin – Schweizerisches und Deutsches betreffend. Angele bildet zusammen mit Jakob Augstein die Chefredaktion der Wochenzeitung «Der Freitag». Er ist im Seeland aufgewachsen und lebt seit vielen Jahren in Deutschlands Hauptstadt. Berndeutsch kann er aber immer noch perfekt. Als Buchautor erschienen von ihm zuletzt «Der letzte Zeitungsleser» und «Schirrmacher. Ein Porträt».

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