Michelle Gisin ist die Allrounderin im Schweizer Team. Doch die Abfahrt ist bei der 26-jährigen Engelbergerin wichtiger geworden.
Furchtlos sind sie, heisst es über die bisweilen glorifizierten Abfahrerinnen und Abfahrer. Michelle Gisin, die Allrounderin durch und durch, begibt sich inzwischen regelmässig ins Revier dieser Spezies. Als furchtlos bezeichnet sich die smarte Obwaldnerin aber nicht. Im Gegenteil. Einst bezeichnete sie sich als ängstlichen Menschen. Im Kreis der Speedfahrerinnen fällt sie darum nicht nur deshalb aus dem Rahmen, weil sie neben Mikaela Shiffrin zur schwindenden Population der Allrounderinnen gehört, sondern auch, weil sie aus ihren Ängsten kein Geheimnis macht.
Nach Jahren des Herantastens will es die Jüngste des Gisin-Clans in den schnellen Disziplinen wissen. Nichts weniger als den Gewinn der kleinen Kristallkugel in der Abfahrt rief sie im Vorfeld der neuen Saison als ihr grosses Saisonziel aus. Big Points seien nötig, um in den Gesamtwertungen vorne mitzumischen, meint der Cheftrainer Beat Tschuor. «Ich denke schon, dass es möglich ist, Abfahrten zu gewinnen», sagt Michelle Gisin.
«Angst ist kein Hindernis, sondern ein Schutz»
Warum es so gekommen ist, dass Gisin den Schwerpunkt verschoben hat, liegt auf der Hand. Das schlummernde Potenzial war schlicht zu offensichtlich, um sich nicht mit diesem Gedanken zu beschäftigen. Gleich bei ihrem ersten Start in einer Weltcup-Abfahrt konnten auch die Skifans davon Notiz nehmen. Ende 2016 in Val d'Isère war es.
Die Schweizerinnen befanden sich auf dem Weg zu einer Niederlage, als Michelle Gisin, die Schwester von Abfahrer Marc und Ex-Abfahrerin Dominique Gisin mit der Startnummer 51 ins Rennen ging. Sie schaffte es auf Anhieb auf den 7. Platz. Vor ihr lagen die Slowenin Ilka Stuhec, die Österreicherin Cornelia Hütter und vier Italienerinnen – alle mit die Besten in dieser Sparte. Hinter ihr: sämtliche Schweizer Teamkolleginnen.
Dass es nun so gekommen ist, dass Gisin ihre höchsten Ziele in der Abfahrt anvisiert, benötigte Zeit. Zeit, die sie sich gab und die Trainer ihr gaben. Alois Prenn, der Schweizer Gruppentrainer, begleitete sie auf dem Weg. Ganz am Anfang habe Prenn zu ihr gesagt, dass es okay sei, Angst zu haben. «Angst ist kein Hindernis, sondern ein Schutz», erklärte er ihr. Der Satz ist ihr geblieben. Heute sagt sie: «Die einen nennen es Angst, andere Respekt.»
Den Weg in die Weltspitze hat Gisin gewissermassen mit angezogener Handbremse gefunden, «ohne die Bereitschaft zum letzten Quäntchen Risiko», wie sie es ausdrückt. «Probieren, aber nichts überstürzen» lautete das Motto. Waren die Bedingungen nicht optimal, war zum Beispiel die Sicht nicht gut, fuhr Gisin mit gebotener Vorsicht. «Dann brachte ich einfach eine sichere Fahrt ins Ziel», sagt sie.
«Ich bin in einer super Form und so fit wie»
Gisin konnte sich das leisten. Als Allrounderin war sie nicht in jedem Rennen auf gute Resultate angewiesen. Doch wie ist es jetzt, wo sie die Disziplinenwertung gewinnen will und deshalb Big Points, Siege, braucht? Lassen sich mit dieser Herangehensweise Abfahrten gewinnen? «Ja. Mit taktischer Intelligenz und gutem Skifahren», ist Gisin überzeugt.
Es wird spannend zu sehen, wo die 26-Jährige in den schnellen Disziplinen steht. Mit vier Top-10-Klassierungen in den bisherigen vier technischen Rennen ist der Athletin, die in fünf Disziplinen antritt, der Saisonstart geglückt. «Ich bin in einer super Form und so fit wie. Dem Knie geht es besser als vor der Operation», sagte sie schon im Oktober. Nun wiederholte sie die Worte in Lake Louise. Der Sturz ihres Bruders Marc vor einem Jahr in Gröden, der sie richtig durchgeschüttelt hat, ist weit weg. Michelle Gisin ist den Ängsten davongefahren.