Die Schweizer Nati Eine 20-jährige Erfolgsgeschichte – und kaum einer merkt's

Von Patrick Lämmle

9.6.2022

Herr und Frau Schweizer hatten in den letzten 20 Jahren viel Freude an der Schweizer Nati.
Herr und Frau Schweizer hatten in den letzten 20 Jahren viel Freude an der Schweizer Nati.
Bild: Keystone

Wenn niemand etwas von dir erwartet, hast du nichts zu verlieren. Sobald sich erste Erfolge einstellen, steigt die Erwartungshaltung, die Fallhöhe wird immer grösser. Die Schweizer Nati kann ein Lied davon singen.

Von Patrick Lämmle

Ältere Semester werden sich erinnern: 1994 qualifizierte sich die Schweiz erstmals seit 28 Jahren für eine WM-Endrunde. Die Freude war grenzenlos. Die Nati an einer WM spielen zu sehen, für viele Schweizer Fussball-Fans ging ein Traum in Erfüllung. In den USA erreichte sie dann auch prompt die Achtelfinals. Zwar unterlag sie dort Spanien mit 0:3, doch die Enttäuschung hielt sich in Grenzen. Das Motto damals: Dabeisein ist alles.

Zwei Jahre später folgte die erste EM-Teilnahme überhaupt. Die Schweiz scheiterte krachend in der Gruppenphase, doch nicht die Mannschaft kriegte ihr Fett ab, sondern der eigenwillige Trainer Artur Jorge. Der Portugiese mit dem schönen Schnauz folgte im März 1996 auf den zu Inter Mailand abgewanderten Nationalheld Roy Hodgson und manövrierte sich mit der Ausbootung von Adrian Knup und Alain Sutter sogleich ins Abseits. «Jetzt spinnt er!», titelte der «Blick» nach der viel kritisierten Entscheidung. Gross war die Erleichterung, als Artur Jorge nach der verkorksten EM und nur sieben Spielen als Nationaltrainer das Handtuch warf.

Nur sieben Spiele dauerte die Ära Artur Jorge in der Nati. Für viele sieben Spiele zu lang.
Nur sieben Spiele dauerte die Ära Artur Jorge in der Nati. Für viele sieben Spiele zu lang.
Screenshot: blick.ch

Besser wurde es danach vorerst aber nicht. WM 1998? Verpasst! EM 2000? Verpasst! WM 2002? Verpasst. Wer in diesem Jahrtausend das Licht der Welt erblickte, der kann sich das kaum vorstellen. Denn seit 2004 ist die Nati bei Grossanlässen Stammgast. Einzig für die EM 2012 in Polen und der Ukraine konnte sich die Schweiz nicht qualifizieren. Und das ausgerechnet in der Ära des hochgelobten Ottmar Hitzfeld, der nach der Heim-EM 2008 das Traineramt übernahm und sich 2014 nach der Achtelfinal-Niederlage gegen Argentinien verabschiedete.

Den Tränen nah: Ottmar Hitzfeld nach seinem letzten Spiel als Nationaltrainer.
Den Tränen nah: Ottmar Hitzfeld nach seinem letzten Spiel als Nationaltrainer.
Bild: Keystone

Der ungeliebte Punktelieferant

Vladimir Petkovic trat das Erbe von Hitzfeld an und er schien zum Scheitern verurteilt. In der EM-Quali setzte es gleich zu Beginn Niederlagen gegen England und Slowenien ab – medial wehte ihm spätestens von da an ein rauer Wind entgegen. Letztlich aber führte er die Nati an die EM und dort bis in den Achtelfinal. Nach dem Aus im Elfmeterschiessen gegen Polen wurde er dennoch von vielen Seiten mit Kritik eingedeckt. Der Verband bewahrte derweil einen kühlen Kopf und hielt an ihm fest.

An der WM 2018 in Russland bedeutete, wie vier Jahre zuvor unter Hitzfeld, erneut das Achtelfinal Endstation. Doch dieses Mal wurde der Trainer nicht hochgejubelt, sondern mit Kritik übergossen. Gegen Argentinien darf man verlieren, aber sicher nicht gegen Schweden. Manche Medien forderten in grossen Lettern die sofortige Entlassung des Nationaltrainers. Schon wieder habe er es verpasst, die Mannschaft in einen Viertelfinal zu führen.

Und dann war da auch noch die Doppeladler-Affäre, die, so hätte man meinen können, das ganze Land zu spalten drohte. Kommunikativ habe Petkovic diesbezüglich versagt. Wie sehr das Thema bewegte, veranschaulicht die Tatsache, dass das Wort des Jahres 2018 Doppeladler war. Kein Witz.

Dieses Bild ging um die Welt und löste schweizweit eine Debatte aus: Xhaka formt nach seinem Tor im WM-Spiel 2018 gegen Serbien seine Finger zum albanischen Doppeladler. Xherdan Shaqiri tut es ihm nach dem Siegtreffer zum 2:1 gleich.
Dieses Bild ging um die Welt und löste schweizweit eine Debatte aus: Xhaka formt nach seinem Tor im WM-Spiel 2018 gegen Serbien seine Finger zum albanischen Doppeladler. Xherdan Shaqiri tut es ihm nach dem Siegtreffer zum 2:1 gleich.
Keystone

Aber Petkovic durfte bleiben. Und zum Glück für ihn strafte er seine Kritiker Lügen. Zwar begann die EM alles andere als gut. Schon vor dem Turnier sorgte Granit Xhaka für Schlagzeilen, weil er sich am freien Wochenende vor dem Abflug nach Baku ein Tattoo stechen liess. Dies, obwohl der Trainer die Spieler ermahnt hatte, ihre Zeit aufgrund der vorherrschenden Corona-Lage ausschliesslich mit ihren Familien zu verbringen.

Nach dem 1:1 zum Auftakt gegen Wales folgte schon der nächste Fauxpas. Gegen Italien wurden die frisch frisierten Schweizer vom späteren Europameister Italien mit 0:3 abgewatscht. Der Coiffeur-Gate war geboren und löste eine Debatte aus, die bis zum nächsten Auftritt ausgeschlachtet wurde.

Haare schön. Captain-Binde sitzt. Tattoos gut sichtbar. Einzig das Resultat passt nicht.
Haare schön. Captain-Binde sitzt. Tattoos gut sichtbar. Einzig das Resultat passt nicht.
Bild: Keystone

Die Mannschaft reagierte aber stark. Mit Yann Sommer im Tor, der nach dem Italien-Spiel abreiste, um bei der Geburt seiner Tochter dabei zu sein, fegte die Schweiz die Türkei mit 3:1 vom Platz und erreichte die K.o.-Phase. Man stelle sich vor, Sommer wäre ein folgenschwerer Fehler unterlaufen. Alle hätten danach gewusst, dass es ein Fehler war, ihn ins Tor zu stellen.

Aber Sommer hat nicht ins Leere gegriffen, viel mehr war er schon bald der grosse Held einer ganzen Nation. Beim Spektakel-Sieg gegen Frankreich parierte er im Elfmeterschiessen den alles entscheidenden Penalty von Superstar Kylian Mbappé. Der langersehnte Viertelfinal war Tatsache.

Auch gegen Spanien zeigte Sommer mirakulöse Paraden und rettete die ab der 77. Minute in Unterzahl agierende Nati ins Elfmeterschiessen, wo sie letztlich den Spaniern trotzdem unterlag. Zwar wurde Petkovic nach der letztlich erfolgreichen EM-Kampagne nicht hochgejubelt, doch immerhin blieb nun die inzwischen zur Gewohnheit gewordene, vernichtende Kritik an seiner Person aus. Ein guter Moment um abzutreten, das Spiel gegen Spanien sollte sein letztes als Nati-Trainer bleiben. Der Mann, der die erfolgreichste Ära in der Schweizer Fussballgeschichte prägte, verabschiedete sich Richtung Bordeaux.

Es folgte Murat Yakin, der die Schweiz souverän an die WM führte und dem die Herzen zunächst nur so entgegenflogen. Doch der Wind droht sich langsam zu drehen. Im Jahr 2022 hat die Nati in keinem der vier bisherigen Spiele überzeugt. Niederlagen gegen England, Tschechien und Portugal und ein Remis gegen den Kosovo, so die aktuelle Jahres-Bilanz. Nun folgen in den nächsten Tagen die Partien gegen Spanien und Portugal. Geht die Nati auch hier als Verlierer vom Platz, so wird sich auch Yakin erstmals mit harscher Kritik konfrontiert sehen.

Überhöhte Erwartungshaltung

Betrachtet man die letzten 20 Jahre als Ganzes, so muss man festhalten, dass sich die Schweizer Nationalmannschaft hervorragend entwickelt hat. In der Tendenz ging es Schritt für Schritt nach oben. Aber es ist wie so oft im Leben. Wenn sich Dinge zum Besseren wenden, verändern Menschen ihre Massstäbe. Die Erwartungshaltung steigt teils ins Unermessliche.

Nach den zuletzt biederen Auftritten in der Nations League gegen Tschechien (1:2) und Portugal (0:4) machen wir uns hierzulande bereits wieder Sorgen, dass der Schweiz an der WM im November ein Debakel droht. Europameister Italien hat derweil ganz andere Sorgen, sie sind in Katar gar nicht erst dabei. Und weil wir uns ja gerne mit der Crème de la Crème vergleichen: Auch Weltmeister Frankreich hat in der Nations League einen Fehlstart hingelegt. Auch wenn die Auftritte der Schweiz zuletzt schwach waren, braucht man nicht gleich alles infrage zu stellen.

Ohne Worte.
Ohne Worte.
Getty

Bei allem Respekt vor der Schweizer Nati, sollten wir auch eins nicht vergessen: Eine mit internationalen Top-Stars gespickte Mannschaft ist sie nicht. Viel mehr hat die Schweiz in all den letzten Jahren ausgezeichnet, dass sie als Mannschaft nahezu das Maximum aus ihren Möglichkeiten herausgeholt hat.

Um das zu realisieren, müsste man die Schweiz aber vielleicht besser mal mit Österreich vergleichen als immer nur mit den ganz Grossen. Die beiden Länder zählen in etwa gleich viele Einwohner, die nationalen Fussball-Ligen sind vom Niveau her vergleichbar und in den Nationalteams wimmelt es von Legionären. Der aktuelle Marktwert aller Nationalspieler Österreichs ist derzeit sogar etwas höher als jener der Schweizer.

Und was hat unser Nachbarland aus seinen Möglichkeiten gemacht? An der WM in Katar sind sie auf alle Fälle nicht dabei. Ohnehin hat sich Österreich in den letzten 20 Jahren nur für die EM 2016 (Gruppenphase) und die EM 2020 (Achtelfinal) qualifiziert. An der EM 2008 (Österreich und Schweiz) scheiterten die beiden automatisch qualifizierten Gastgeber bereits in der Gruppenphase.

Österreich war in den letzten 20 Jahren nicht ein einziges Mal besser als die Schweiz.
Österreich war in den letzten 20 Jahren nicht ein einziges Mal besser als die Schweiz.

So schlimm steht es um unseren Fussball also wahrlich nicht. Im Gegenteil: Die Schweizer Nati ist eine 20 Jahre andauernde Erfolgsgeschichte. Der Vergleich mit unseren hochgelobten Nachbarländern Frankreich, Deutschland und Italien zeigt, dass wir in Sachen Konstanz den Grossen Paroli bieten, einzig die Krönung in Form eines Titels blieb aus. Und seit 2014 können wir es auch mit dem kommenden Nations-League-Gegner Spanien aufnehmen.

Die Schweiz im Vergleich mit Top-Nationen

Die Franzosen sind der Schweiz einen Schritt voraus, das letzte Direktduell entschied die Nati an der letzten EM aber für sich.
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An den letzten beiden Grossanlässen war die Schweiz besser als Deutschland.
An den letzten beiden Grossanlässen war die Schweiz besser als Deutschland.
Italien pendelt zwischen Genie und Wahnsinn. Die WM 2022 ist die zweite in Folge, die ohne Italien stattfindet, dazwischen holte man den EM-Titel.
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Spanien war zwischen 2008 und 2012 das Mass aller Dinge. Seit 2014 bewegt sich die Schweiz auf Augenhöhe.
Spanien war zwischen 2008 und 2012 das Mass aller Dinge. Seit 2014 bewegt sich die Schweiz auf Augenhöhe.