Das Champions-League-Märchen von Atalanta Bergamo führt in die Viertelfinals. Ein wichtiger Erfolgsfaktor der Bergamasken war dabei Josip Ilicic. Auf den kreativen Spielmacher muss man aber höchstwahrscheinlich verzichten.
Bevor die UEFA ihre Wettbewerbe stoppte, zeichnete sie noch Josip Ilicic als «Spieler der Woche» aus. Dieser hatte zuvor im Achtelfinal den FC Valencia praktisch im Alleingang abgeschossen. Gleich fünf der acht Atalanta-Tore in den beiden Spielen gingen auf sein Konto, der im zarten Alter von 32 Jahren endlich in der Fussball-Elite ankam.
«Für mich gilt wohl – je älter, desto besser», meinte Ilicic danach. «Ich will so weitermachen und Spass haben.» Leider hat sich sein Wunsch nicht erfüllt, im Gegenteil. Seit dem Re-Start in der Serie A wirkte der Slowene auf dem Platz neben sich zu stehen.
Nun droht dem Überraschungsteam – wo unter anderem der Schweizer Remo Freuler und der ehemalige FCZler Berat Djimsiti kicken – die Kampagne in der Königsklasse ohne ihre «Oma», so Ilicics Spitzname, anzutreten. Trainer Gian Piero Gasperini meinte: «Wir schauen von Tag zu Tag, doch dass er mit uns nach Lissabon fährt, ist sehr, sehr unwahrscheinlich.»
Die «Gazzetta dello Sport» glaubt zu wissen, warum Ilicic ein plötzlicher Leistungsabfall erlitt: Er habe während des Lockdowns einen «psychologischen Kurzschluss» erlebt, mit jedem Tag sei er tiefer gefallen. Ilicic blieb im Gegensatz zu anderen Auslands-Legionären während der Pandemie in Bergamo.
Die Stadt galt als Epizentrum des Coronavirus, zeitweise gab es einen Todesfall pro halbe Stunde zu beklagen. Insgesamt Hunderte Menschen starben. Unvergessen bleiben auch die Bilder, wie Militärtransporter Mitte März in einer Nachtaktion die Särge der Leichen abtransportierten. Bergamo wurde als Wuhan Italiens bezeichnet.
Sind Kindheitserinnerungen die Ursache?
Die schlimme Zeit hat zu «Ilicics Drama» beigetragen, spekuliert der «Corriere della Sera». Ilicics Eltern stammen aus Kroatien, geboren ist er 1988 im heutigen Bosnien. Als er noch ein Baby ist, stirbt der Vater an einer Krankheit. Gemäss Gerüchten in seiner Heimat könnte er aber auch in den Kriegswirren umgekommen sein.
Als Vierjähriger gibt es in seinem Heimatort ein schreckliches Massaker. Die Mutter flieht zusammen mit seinem älteren Bruder Igor nach Kranj, der viertgrössten Stadt Sloweniens. Die Erinnerungen an diese schreckliche Zeit könnten nun wieder hochgekommen sein. Der Klub hat ihn nach Slowenien geschickt, wo sich der schon zuvor für seine Sensibilität bekannte Ilicic nun erholen soll.
Im mit knapp zwei Millionen Einwohner beschaulichen Slowenien begann auch sein Märchen. Beim lokalen Verein Triglav beginnt Ilicic Fussball zu spielen, es geht schnell aufwärts. Interblock aus der Hauptstadt Ljubljana verpflichtet ihn. Als der Klub absteigt, wird er aussortiert. Als er bereits ans Karriereende denkt, holt NK Maribor 2010 den Rohdiamanten zu sich.
Der 21-Jährige absolviert zwar dort nur fünf Spiele, darunter ist aber ein Qualifikationsspiel zur Europa League gegen Palermo. Die Sizilianer sind begeistert und nehmen ihn gleich für 1,5 Millionen Euro unter Vertrag. In seiner Debütsaison kann er sich als Stammspieler etablieren.
Eine Dekade in der Serie A
Obwohl Ilicic 1,90 Meter gross ist, verfügt er über eine ausgezeichnete Technik. Mit seinem starken linken Fuss ist er nicht nur aus der Distanz gefährlich, sondern kann auch seine Mitspieler gut in Szene setzen. Doch trotz allen Voraussetzungen glänzt der Offensivkünstler nur bedingt in der Serie A. Nach Palermo wechselt er 2013 zu Fiorentina, 2017 wird er für fünf Millionen Euro zu Atalanta Bergamo abgegeben. Auf dem Platz wechseln sich Höhen und Tiefen ab, mehr als 13 Saisontore gelingen ihm nie. Vielleicht verliess sich der phlegmatisch wirkende Slowene etwas zu sehr auf sein Talent.
Krankheit als Wendepunkt
Unter Gian Piero Gasperini blüht er dann endlich auf. Der Trainer impft seinem Team eine offensive Spielweise ein, die Ilicic auf den Leib geschneidert ist. Doch im Sommer endet sein Aufstieg abrupt. Er leidet an einer mysteriösen Infektion der Lymphknoten und verbringt viel Zeit im Krankenhaus. «Diese Zeit hat mich verändert», erläutert Ilicic. Eine Weile habe er sich nicht einmal mehr Spiele angesehen. Doch der ruhige Zeitgenosse fand den Tritt wieder.
Diese Spielzeit explodierte der sechzigfache Internationale bis zum Lockdown regelrecht. In der Meisterschaft traf er in 21 Partien 15-mal und lieferte 8 Assists. Seit der Wiederaufnahme Mitte Juni war er aber nur noch ein Schatten seiner selbst. Nicht nur die Atalanta-Fans hoffen innig, dass Ilicic im Sonderurlaub wieder zu sich findet.