Dieser Typ ist eine Wucht. Und das nicht nur, wenn er auf dem Platz brutal abgeht. Beim 4:2 gegen Portugal wird Robin Gosens zum «Star of the Match» gekürt. Sein Karriereweg ist exotisch, seine Sprache hat etwas «Poldi»-haftes. Auch Sprücheklopfer Müller weiss er zu kontern.
Dieser Wahnsinns-Typ hat das Zeug zum neuen deutschen Fussball-Liebling. Wenn es Robin Gosens nach der grandios gespielten Hauptrolle beim 4:2-Blockbuster der deutschen Nationalelf gegen Portugal nicht bereits ist. Gosens rannte. Gosens flankte. Gosens grätschte. Gosens riss mit. Gosens bereitete Tore vor. Und Gosens köpfte das 4:1. Es war die Krönung eines Spiels, für das nur eine Note möglich war: 1+.
Die Show des Turnierneulings, der am 5. Juli, dem Tag vorm ersten EM-Halbfinale, 27 wird, war nach dem Abpfiff aber noch nicht vorbei. Da trat Gosens vor die Kameras. Und das Publikum erlebte einen Pfundskerl, der optisch Lukas Podolski ähnelt und mindestens so frisch daherredet wie einst Liebling «Poldi». Die UEFA kürte Gosens zum «Star of the Match». Die Fans intonierten lauthals seinen Namen.
«Du kannst mich gern mal zwicken, auch da glaube ich es nicht», sagte Gosens zum ARD-Reporter, als er seine Gefühle beschreiben und die Emotionen einordnen sollte. «Ein emotionales Gefühlchaos» beherrschte ihn. Eine Mischung aus kindlicher Freude, Stolz und Glückseligkeit. «Dass man für sein Land eine EM bestreiten kann und in so einem Spiel ein Tor schiesst, das ist next Level, das ist magisch», sagte Gosens.
In die gängigen Fussballer-Schablonen passt dieser Typ nicht. Und viele Fernsehzuschauer, die keine Freaks sind und sich Spiele von Atalanta Bergamo in der italienischen Serie A anschauen oder die Champions League verfolgen, werden am Samstagabend erstaunt gefragt haben: Robin wer? Die Antwort gab der bislang vielen Unbekannte in 62 Power-Minuten auf dem Platz und beim Interview-Marathon danach. «Der Sieg bedeutet mir alles», sagte er.
Bei Toren geht ihm «einer ab»
Einfach. Schnörkellos. Zielstrebig. Gosens spricht wie er spielt. Und er tut es im Trikot mit der 20, die einst auch Podolski trug, als er beim WM-Sommermärchen 2006 mit Bastian «Schweini» Schweinsteiger zum Lieblingsduo der Deutschen avancierte. Den «linken Huf» von Podolski hätte er gerne, sagte Gosens. Sein linker Fuss ist auch nicht übel.
Gosens redet anders als andere Profis. «Affengeil» fand er den rauschenden Abend in München. Bei ihm heissen Tore «Hütten». Und er hat kein Problem damit, einfach mal live in die TV-Kameras zu sagen, dass ihm bei Toren «einer abgeht». Zu Reibungspunkten innerhalb der Gruppe bemerkte er: «Man muss sich auch mal auf die Eier gehen.»
Gosens hat jetzt neun Länderspiele und zwei Tore. Thomas Müller zum Beispiel hat 103 und 39 Treffer. Gosens ist Turnierneuling – und doch schon irgendwie ein Anführer. Alle im DFB-Tross lieben Robin, alle mögen seine Art. Ein nüchterner Kerl wie Matthias Ginter sagte: «Robin ist ein total offener und positiver Typ, der wahnsinnig viel positive Energie mit reinbringt.» Energie, die das Team braucht.
Über Holland nach Italien – und nie in der Bundesliga
Gosens ist der Exot im Kader von Bundestrainer Joachim Löw. Er ist kein Produkt eines Nachwuchsleistungszentrums. Er ist der einzige unter den 26 deutschen EM-Spielern, der nie in der Bundesliga gekickt hat. «Als Exot fühle ich mich insofern, dass ich weiss, dass ich einen anderen Weg gegangen bin als alle, die hier dabei sind. Aber in der Truppe fühle ich mich überhaupt nicht als Exot. Ganz und gar nicht.»
Der Sohn einer deutschen Mutter und eines niederländischen Vaters ist in Emmerich am Niederrhein geboren. Bei der A-Jugend des VfL Rhede fiel er zufällig einem Scout von Vitesse Arnheim auf. Er wurde zum Probetraining eingeladen. Der ungewöhnliche Weg führte Gosens später über den FC Dordrecht zu Heracles Almelo, ehe sich Atalanta Bergamo für eine Million Euro Ablöse den halben Holländer angelte.
In Italien startete Gosens durch – bis zu Löw. Das 3-4-3-System scheint der Bundestrainer fast für ihn ersonnen zu haben. Denn es bringt alle Vorzüge von Gosens, der sich selbst als «dynamischen Schienenspieler» bezeichnet, zur Geltung. Gosens links, Kimmich rechts – diese Flügelzangenlösung ging gegen Portugal super auf.
Gosens kann sich auf der Position ausleben: «Das ist eine Stärke von mir, dass ich am zweiten Pfosten lauern kann und eine Hütte machen kann.» Löw schwärmt, wenn er über Gosens spricht: «Als Typ schätzen wir ihn sehr, weil er sehr offen ist, sehr aktiv in der Kommunikation. Er hat einen sehr guten Draht zu allen Spielern, ist klar im Kopf, sehr geradlinig. Er ist so ein Typ wie auch sein Spiel ist: Immer klare Kante zeigen, alles in die Waagschale werfen.»
Löws Scouting-Stab hat Gosens schon seit 2019 im Visier. Im September 2020 debütierte er im Nationaltrikot. «Er hat sich schnell bei uns behauptet und sehr gut Fuss gefasst in der Mannschaft», sagte Löw. Auf die Frage, ob Gosens «das Spiel seines Lebens» gemacht habe, entgegnete der Bundestrainer mit dem Blick aufs weitere Turnier: «Das hat er vielleicht nocht vor sich.»
Schon auf dem Radar der Top-Klubs
Die EM macht Gosens jedenfalls zu seiner Bühne, zum Schaufenster. Das Preisschild ändert sich gerade von Spiel zu Spiel. 2022 läuft sein Vertrag bei Atalanta aus. Laut der «Bild» beschäftigen sich bereits der FC Barcelona und die AC Milanh mit dem neuen DFB-Star, dessen Marktwert bei 35 Millionen Euro liegt. «Gute Leistungen haben manchmal zur Folge, dass man auf den Bildschirm gerät von anderen Mannschaften. So funktioniert unser Sport», bemerkte Gosens. Nebenher studiert er Psychologie, er weiss sich zu verkaufen.
«So wie er spielt mit unbändigem Einsatz, so kämpft er auch für Dinge, die ihm wichtig sind», verriet Löw. Gosens erlebte etwa die tragische Corona-Situation in Bergamo im Frühjahr 2020 hautnah mit. Er schilderte sie auch mehrfach eindrucksvoll im deutschen Fernsehen. «Rückblickend war das die schwierigste Zeit meines Lebens.»
Aktuell dagegen lebt er einen Traum. Mit Müller, Leon Goretzka und Kevin Trapp bewohnt er im «Home Ground» bei Adidas ein Holzhaus. Sie bilden die Gaudi-WG. Weil Hausbewohner Gosens gegen Portugal mit Adduktorenproblemen vorzeitig vom Platz musste, frotzelte WG-Chef Müller, dass er wohl nur 60 Minuten durchgehalten habe, weil er in Italien spiele. Konter Gosens: «Ich habe geantwortet: Besser 60 gute Minuten als 90 schlechte. Da hat er gelacht, damit ist das Thema durch.» Gosens und Müller sind bei der EM so etwas wie Best Buddies.