Mit der Schweizer Nationalmannschaft hat Pierluigi Tami eine emotionale EM mit einem historischen Erfolg erlebt. Auch als neutraler Beobachter fand der 59-Jährige gefallen an der EM. Der Trend zum Offensivfussball behagt ihm.
Noch haftet die Flut an Emotionen vom bewegenden Turnier der Schweizer an Pierluigi Tami und hatte der Tessiner keine Zeit für Ferien. Die Nachwuchsstufen sollen auch im EM-Jahr des A-Teams nicht vernachlässigt sein, betont der Nationalmannschafts-Direktor des Schweizerischen Fussballverbands im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.
Selbstredend stand die Schweizer EM-Kampagne bei Tami im letzten Monat im Fokus. Der ehemalige Nachwuchscoach beim SFV beobachtete das Turnier aber auch über die Schweizer Blase hinaus. «Italien hat sich den Titel mit seinen Auftritten und der mannschaftlichen Geschlossenheit am meisten verdient», sagt er. Über die Tendenz zum Angriffsfussball meint er erfreut: «Es geht Richtung Spektakel.»
Pierluigi Tami, Italien hat die Zuschauer begeistert und den Titel geholt. Die Frage nach dem richtigen Sieger sei hier nicht gestellt.
«Wenn die beste Mannschaft gewinnt, freuen wir uns doch alle. Es ist nicht immer so, aber in diesem Fall zeigte Italien über das ganze Turnier sicher den besseren Fussball als England, das es in seiner Tableau-Hälfte leichter hatte. Die Italiener haben mich sehr überzeugt, auch wenn sie in der K.o.-Phase zwei Penaltyschiessen und eine Verlängerung überstehen mussten. Das Ergebnis ist korrekt. Mit seinen Auftritten und der mannschaftlichen Geschlossenheit hat sich Italien den Titel am meisten verdient.»
Was bleibt von der EM 2021 aus internationaler Sicht haften?
«Unser Sieg gegen Frankreich mitsamt seiner Dramaturgie steht über allem. Wir haben die Achtelfinal-Mauer durchbrochen und unglaubliche Emotionen erlebt, von denen ich mich noch nicht ganz erholt habe. Das war einmalig und unser ganzes Turnier sehr speziell. Wenn ich über den Tellerrand blicke, kann ich sagen: Wir haben viele gute und schöne Spiele gesehen. Es war gute Werbung für den Fussball und machte Spass zuzuschauen. Mannschaften wie Italien, Dänemark, Österreich und die Schweiz haben gezeigt, dass nicht die Einzelspieler ausschlaggebend für den Erfolg sind, sondern das Kollektiv.»
Es gab viele Tore, durchschnittlich 2,8 pro Match. Der Offensivgeist vieler Mannschaften fiel auf, ausserdem war ein Trend zur Dreierkette und grosser taktischer Flexibilität festzustellen.
«Das Spielsystem ist für mich nicht das Wichtigste. Entscheidend ist die Strategie, die dahintersteckt. Dass viele Mannschaften die Initiative ergriffen haben und auch offensiv pressten, gefiel mir und entspricht dem modernen Fussball. Vor allem die Italiener, aber auch die Spanier und die Dänen beherrschen das offensive Pressing sehr gut. Auch der Auftritt der Österreicher gegen Italien hat mir gefallen. Bei vielen Teams war eine klare Spielidee erkennbar: eine, die auf Kontrolle aufbaut, aber auch das Spiel in die Vertikale beinhaltet. Für mich geht das in Richtung Spektakel.»
England war diesbezüglich ein Konterpart.
«Die Engländer sind ein bisschen das Gegenstück, ja. Sie spielen aus einer starken Defensive heraus, haben viele Spieler hinter dem Ball und fahren starke Konter. Auch Frankreich agierte wie schon beim Gewinn des WM-Titels 2018 aus einer defensiven Grundordnung und setzte vorne auf die individuelle Qualität.»
England wird eine rosige Zukunft attestiert. Stimmen Sie mit ein?
«Die Engländer verfügen ohne Zweifel über ein riesiges Potenzial und werden sicher auch in näherer Zukunft zu den Favoriten gehören. Aber ich glaube, sie müssen in der Nationalmannschaft noch Fortschritte machen, wenn sie einen Titel gewinnen wollen. Der Stil der Nationalmannschaft ist aktuell ein anderer als jener der in der Champions League und Europa League erfolgreichen englischen Klubs. Augenfällig war auch, dass Trainer Gareth Southgate im Vergleich zu den Italienern im ganzen Turnier wenig wechselte im Verlauf der Partien. Roberto Mancini operierte immer aus einer breiten Bank heraus. Southgate kam mit 13, 14 Spielern aus, was nicht an der Qualität auf der Bank gelegen haben kann. Man sollte nicht unterschätzen, wie anstrengend so ein Turnier ist, auch in mentaler Hinsicht.»
Die Schweiz gehörte zu den Teams, die viel und weit reisen mussten. Empfanden Sie das Turnier diesbezüglich als unfair?
«Es waren sicher nicht die gleichen Bedingungen für alle, und dass die Schweiz nicht zu den Begünstigten gehörte, lässt sich nicht von der Hand weisen. Es sehr ungewöhnlich und auch kompliziert für uns. Normalerweise hast du an einer Endrunde dein Basiscamp, wo du rund um die Uhr über Spiele und Leistungen nachdenken kannst. Dieses Mal gab es so viele Reisen, so viel Bewegung zwischen den Städten. Wir spielten in Baku gegen Wales, wegen den Reisebeschränkungen hatte es kaum Fans vor Ort. Wir hatten aber auch schöne Erlebnisse. In Bukarest hat uns gegen Frankreich fast das ganze Stadion unterstützt. Auch in St. Petersburg gegen Spanien hatten wir einen breiten Support.»
Wie gefiel Ihnen der VAR im Turnier?
«Remo Freulers Rote Karte gegen Spanien empfand ich als zu hart, und dass das 1:1 von Mario Gavranovic gegen Wales vom VAR annulliert wurde, war hart. Aber: Ich begrüsse den Einsatz des VAR sehr. Es kann hart sein, wenn Entscheide korrigiert werden, es ist in der grossen Mehrheit der Fälle aber richtig. In Zweifelsfällen wie Freulers Foul oder der Penalty-Szene von Raheem Sterling gegen Dänemark sollten die Schiedsrichter das Spiel weiterlaufen lassen und darauf setzen, dass der VAR eingreift, wenn das Foul klar war.»
jos, sda